Mit einem Damenrad von Mecklenburg über Budapest in die Bundesrepublik. In die Freiheit. Das ist die Geschichte von Babs. Eine Wendegeschichte. Eine bewegende Geschichte. Eine Fluchtgeschichte. Eine Geschichte über Wiedervereinigung und Trennung. Eine Geschichte, die nachdenklich macht und zu Tränen rührt. Die Geschichte beginnt und endet an diesem Baum
Die Allee zwischen Drönnewitz und Rögnitz wirkt wie in einem Heimatfilm aus den 50er-Jahren. Zwischen weiten Wiesen und alten Eichen schneidet die Straße durch eine perfekte Idylle. Im Herbst ruhen gerne Kraniche auf den Feldern. Über dem nahen Schaalsee kreisen majestätisch seltene Fischadler. Kein Wunder, dass diese intakte Landschaft zum Biosphärenreservat erklärt wurde. Ein Naturparadies. Wie mag es hier vor 25 Jahren ausgesehen haben?
Wohl nicht viel anders als heute. Nur das statt eines VW Golf damals sehr vereinzelt ein Trabi über den rauen Asphalt hoppelte. Die Wurzeln der alten Baumriesen am Straßenrand haben die Fahrbahn in eine wellige Piste verwandelt. Waren es früher unförmige Traktoren aus russischer Produktion, die auf den Agrawüsten der LPG den Fünfjahresplan übererfüllten, sind es heute hochmoderne Deutz- oder Fendt-Schlepper, die die Ernte nach kapitalistischen Kriterien einbringen. Die meisten Häuser haben frische Farbe; doch zahlreiche Bauruinen künden davon, dass die versprochene Blüte noch nicht angekommen ist im ländlich geprägten Mecklenburg.
Vor allem landschaftlich hat sich nichts geändert seit 1989. Vor der Wende war die Gegend Sperrgebiet. Heute ist sie ein einsamer Landstrich zwischen Zarrentin und Wittenburg; eine unbeachtete geographische Randnotiz ein paar Kilometer nördlich der BAB 24 - der logistischen Aorta zwischen den beiden größten deutschen Städte, auf der unermüdlich der Verkehr rollt und die Versorgung der Metropolregionen Berlin und Hamburg sicher stellt. Die schöne Schaalseeregion lässt der flüchtige Neuzeitmensch links liegen. Oder rechts; je nach Fahrtrichtung.
Nach Rögnitz kommt der Reisende nicht zufällig. Entweder hat er sich verfahren oder einen Geheimtipp bekommen. Etwa den, dass es in Rögnitz einen Bauernmarkt oder die hervorragende Ziegenkäsemanufaktur samt angeschlossener Kunsthandlung gibt, weil die Dame des Gutshauses gerne Bilder malt. Ihr Gatte arbeitet beim Film, und so ist es auch kein Wunder, dass der Aussteigertraum Rögnitz zum Drehort für den modernen Heimatfilm "Hände weg von Mississippi" wurde.
Was, bitte schön, hat das jetzt mit Fahrrädern zu tun? Nichts, auf den ersten Blick zumindest. Doch die lange Präambel ist nötig, um den Rest die der Geschichte zu verstehen und einzuordnen. Wer in der Käse-und Kunst- Manufaktur einkauft, entdeckt neben dem ehemaligen Feuerwehrgerätehaus, in dem heute das Käsekino (Cinema Fromage) untergebracht ist, ein verrostetes Damenrad. Es hängt rund einen Meter hoch am mächtigen Stamm einer alten Kastanie. Der Baum wird zum Geschichtenerzähler. Zwei mit Folie geschützte, aber trotzdem nur noch schwer lesbare Zettel berichten davon, welches typisch deutsch-deutsche Schicksal sich hier 1989 abgespielt hat.
Die Kastanie am Dorfplatz war der romantische Treffpunkt von Babs und Heinz. Das Fahrrad gehörte Heinz und lehnte am Baum, unabgeschlossen natürlich und für jeden Dorfbewohner nutzbar. In Rögnitz wurde nichts, in der gesamten DDR wenig geklaut. Es gab größere und wichtigere Wünsche als materieller Besitz, Geld und Reichtum. Freiheit nämlich. Diese Sehnsucht verstärkte sich bei Babs als ihr Heinz zur Volksarmee eingezogen wurde, Rögnitz verlassen musste und nur selten in Heimaturlaub durfte. Heinz war schreibfaul und schickte seiner Babs keine Briefe. Babs wurde einsam und melancholisch.
Dann die Wende. Der Wind of change wehte bis nach Rögnitz. Er hauchte Babs neuen Lebensmut und Tatendrang ein. Endlich frei. Frei, das zu tun, was sie will. Frei sein, dorthin zu gehen, wo sie will. Frei, eigene Entscheidungen zu treffen. Babs will Freiheit mehr als alles andere. Sie traf eine mutige Entscheidung. Gegen Rögnitz. Gegen Heinz, für die Zukunft und für die Freiheit. Sie setzte sich auf das alte Damenrad von Heinz und strampelte los. Noch war die Grenze nicht offen. Aber das unterdrückte DDR-Volk hatte es satt und demonstrierte immer lauter, immer offener. Babs radelte nicht nach Westen, wo der Vorhang noch immer eisern war, sondern nach Süden. Von dort breitete sich langsam, aber unaufhaltsam ein wärmendes Wir-Gefühl über die DDR aus und sollte sie umkrempeln.
Babs wollte nach Budapest, wo sich immer mehr DDR-Bürger in der Botschaft der Bundesrepublik sammelten und zum Schlupfloch in den Westen wurde. Babs hatte das im Westfernsehen bei der Oma gesehen. Sie hatte darum ein schlechtes Gewissen. Westfernsehen gucken - wenn das der Heinz wüsste. Aber ihr Wunsch nach Freiheit war größer. Babs war nicht mehr aufzuhalten. Mit dem alten Rad von Heinz radelte sie von Rögnitz nach Budapest. Ein weiter Weg, besonders mit einem Damenrad und nur einem Gang. Aber Freiheitsdrang verleiht Kraft und Ausdauer.
Erschöpft, aber glücklich erreichte sie die ungarische Großstadt und traf dort Ingrid und Thomas. Die wollten nicht weg, sondern nur Urlaub machen. Danach zurück nach Leipzig. Der Thomas war so nett, das Fluchtrad auf seinen Trabi-Anghänger zu legen und mit nach Leipzig zu nehmen. Von dort werde es schon seinen Weg finden, zurück nach Rögnitz. Und in der Tat: Es kehrte zurück. Zurück an den Ort, an den es gehört: Rögnitz.
Es ist nun wieder an der Kastanie zu finden, an der Liebeskastanie von Babs und Heinz. Es fährt nicht mehr, sondern rostet still vor sich hin und gibt Zeugnis von diesem bewegenden deutsch-deutschem Schicksal. Es war der Eddy, der es von Leipzig in die Heimat zurück brachte. In Rögnitz hat er nach Heinz gesucht. Doch auch Heinz ist nicht mehr da. "Auch rüber gemacht", erzählt ihm eine der Dorffrauen. Dem Eddy ist es egal. Er stellt das Rad vom Heinz an den Baum, dorthin, wo es imer seinen Platz hatte und schreibt ein paar Zeilen auf einen Zettel. "Soll es doch hier verschimmeln", meint er und fuhr wieder seiner Wege.
Babs und Heinz sollten sich also nie wieder sehen. Oder doch? Details sind leider nicht überliefert. Nicht wo der Heinz jetzt wohnt, auch nicht wie, wo und mit wem die Babs nun lebt. Hier geplagtes Gewissen hat sie mit folgendem Brief erleichtert.
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