Mittwoch, 14. Juni 2017

Tatort Radweg: Versuchte Vergewaltigung von Velo-Fahrerinnen - eine Spurensuche

Versuchte Vergewaltigung auf Radfahrerinnen: Markierungen der
Kripo am Tatort

Wie sicher sind eigentlich Radwege? Nein, nicht die Verkehrssicherheit ist gemeint, sondern die Wahrscheinlichkeit, auf einer Veloroute als Radfahrer Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden. Seit ein paar Tagen beschäftigt mich diese Frage intensiv, weil es in der Nähe meiner Wohnung in Hamburg-Wilhelmsburg zu zwei versuchten Vergewaltigungen gekommen ist - auf einem Radweg, den ich mehrmals wöchentlich befahre, noch öfter meine Frau und in Zukunft wahrscheinlich auch meine Kinder. Besonders besorgniserregend: Der Tatort ist keine dunkle Piste im Wald, sondern die zwei Täter schlugen auf dem "Loop" zu - einem ausgeleuchtetem Vorbild-Radweg, der 2014 sogar mit dem deutschen Fahrradpreis in der Kategorie Alltagsmobilität prämiert wurde. Also ausgerechnet ein infrastrukturelles Muster-Projekt wirft die Frage auf, wie sicher wir uns als Radfahrer vor kriminellen Übergriffen fühlen dürfen.

Bislang war das für mich nie ein Thema. Im Gegenteil: "Komm rüber", so wirbt der offizielle Slogan der Stadt Hamburg für einen Sprung über die Elbe. Natürlich gerne mit dem Fahrrad. Doch für zwei Frauen - 26 und 30 Jahre jung - wurde der Ausflug nach Süden nun zum Verhängnis. Nur ihre Hilferufe verhinderten Schlimmeres. Ein Tatortbesuch mit Spurensuche und ein paar Spekulationen.




So viel vorweg: Ich bin kein Kriminalitätsexperte. Ich schaue fast jeden Tatort in der ARD. Und ich habe Phantasie. Polizeiermittler werden nun sicherlich müde lächeln: Was will der Amateur? Kommissar spielen oder was? Ja genau. Genau das habe ich getan. Weil ich mich persönlich betroffen fühle. Weil ich den Platz des Verbrechens gut kenne. Weil ich einfach wissen möchte, wie so etwas passieren kann. Und weil ich mir Gedanken mache, wie man so eine Gewalttat verhindern kann.
Ausschilderung des "Loop"
Richtung Süden

Darum habe ich mir nicht nur den Tatort genau angeschaut, sondern auch die Umgebung und mögliche Wege der Täter. Wo können die her gekommen sein? Wohin sind sie geflüchtet? Woher stammen sie? Wer könnte sie gesehen haben? Und überhaupt: Wie waren die Umstände, die zu der Gewalttat geführt haben.

Die Nacht auf den 11. Juni 2017 ist das, was der Hamburger unter einer lauen Sommernacht versteht. In der Luft liegt auch am frühen Sonntagmorgen noch eine milde Schwüle. Eine ideale Partynacht, in der es viele junge Menschen nach Wilhelmsburg zieht. Über den Alten Elbtunnel und die Elbbrücken ist die Flussinsel gut mit dem Fahrrad zu erreichen. Seit ein paar Jahren wird der einstige Schmuddelstadtteil, der 1962 fast komplett überflutet wurde, zum Szenenquartier stilisiert. In den 70er-Jahren sorgte die Giftmülldeponie Georgswerder für negative Schlagzeilen, weil hochtoxisches Dioxin ins Grundwasser sickerte. Im Jahr 2000 wiederum biss ein zur Kampfmaschine dressierter Pitbull-Terrier den kleinen türkischen Jungen Volkan in der Nähe der S-Bahnstation Wilhelmsburg tot. Kein Zweifel: Lange stand der Stadtteil eher für Gewalt als für Glamour. Bis vor vier Jahren.
Der Tatort liegt an den vielbefahrenen Veloroutren 6 und 11 und
ist Teil des "Loops". Der gewann 2014 den Fahrradpreis

2013 wandert Wilhelmsburg quasi in den Mittelpunkt der Hamburger Landkarte. Die Stadtväter suchen Flächen für neuen Wohnraum in der rasch wachsenden Metropole. Ihre zentrumsnahe Lage prädestiniert die Elbinsel zum neuen Entwicklungsgebiet. Internationale Bauausstellung (IBA) und die anschließende Internationale Gartenschau (IGS) sollen das schlechte Image Wilhelmsburgs nachhaltig aufpolieren. Aus der Giftmülldeponie wird ein Energieberg mit LED-verzierten Höhenrundweg auf Stelzen. Daneben drehen sich Windmotoren und eine große Foto-Voltaikanlage verstromt die Sonne,  die nun nicht nur aus dem Himmel auf Wilhelmsburg scheint. Im einst grauen Flakbunker eröffnet ein Aussichtscafé und das schmuddelige Reiherstiegviertel wird zur neuen Schanze erklärt. Besonders offenkundig wird der Wandel in der neuen Mitte Wilhelmsburg. Die Behörde für Stadtentwicklung und Umwelt bezieht einen bunten Neubau; gegenüber protzen experimentelle Wohnhäuser für Besserverdiener. Ein schickes Quartier für die urbane Avantgarde. Wilhelmsburg wird zur Hochburg für Gentrifizierer. Und genau diese sollen natürlich auch den neuen Multifunktionsradweg zu ihren Büros in der Hafencity und Alsternähe nutzen.
Zeitweilig führt der Radweg direkt an der Wilhelmsburger
Reichsstrasse entlang, die hier in die BAB 252 mündet.
Hinter der Kurve wird es unübersichtlicher

Im größten Hamburger Stadtteil südlich der Elbe herrscht Festivalstimmung: Die Veranstaltung "48 Stunden Wilhelmsburg" lockt jede Menge musikbegeisterte Menschen auf die Elbinsel. Seit ein paar Jahren ist der parallel zur Wilhelmsburger Reichsstraße verlaufende Honartsdeicher Weg ein Teil des vielgelobten "Loop" - eine Art Radschnellpiste, die eine zügige Fahrt zwischen der neuen Mitte Wilhelmsburgs und der Veddel ermöglicht. "Eine vorbildhafte Wegeverbindung", nennt sie die Jury des deutschen Fahrradpreises, den die beliebte Route 2104 gewonnen hat. Was kann hier schon schief gehen? Das werden sich wohl auch die beiden 26- und 30-jährigen Frauen gedacht haben, die laut Bericht der Kripo kurz nach ein Uhr den "Loop" in südlicher Richtung mit ihren Fahrrädern befahren. Kamen sie aus dem Stadtzentrum? Oder vom nahen S-Bahnhof Veddel? 

Wo wollten die Frauen zu dieser Zeit hin? Ihr Ziel scheint mir einigermassen wahrscheinlich: eine Party in einem Kleingartenverein in der Nähe vom Ernst-August-Kanal. Nur wenige Stunden zuvor bin ich exakt diese Strecke gefahren, musste ein paar Feierwütige umkurven und freute mich über die ausgelassene Stimmung. Nie hätte ich gedacht, dass es hier gefährlich sein kann. Dass im Grünstreifen möglicherweise Gewaltverbrecher lauern. Der Loop hat Lampen, ist breit ausgebaut und wird von vielen Rad- und Mofafahrern genutzt - auch mitten in der Nacht. Trotzdem schlugen um 1.18 Uhr zwei Täter zu. Im Polizeibericht liest sich das so: "Sie kamen den Geschädigten zu Fuß entgegen, machten ihnen zunächst Platz für die Durchfahrt. Bei der Vorbeifahrt griffen sie die Geschädigten dann unvermittelt an, woraufhin diese zu Boden stürzten. Die beiden Männer schlugen auf die am Boden liegenden Geschädigten ein und zerrten sie in einen Grünstreifen. Die weiteren Handlungen der beiden Täter waren offensichtlich sexuell motiviert. Sie ließen erst von den Frauen ab, als ein Zeuge durch die Hilferufe der Geschädigten auf die Situation aufmerksam geworden war. Die Täter flüchteten daraufhin in Richtung AS Georgswerder/Georgswerder Bogen."
Der schreckliche Vorfall ist nicht nur ein Rückschlag fürs Sicherheitsempfinden für radfahrende Frauen, sondern auch fürs gesamte Image des lange verrufenen Stadtteils. Flut, vergiftete Flächen, Volkan, Vergewaltigungsversuche... - irgendwie bleibt Wilhelmsburg doch die Bronx der Hansestadt.
Die Opfer fuhren durch diese Kurve gen Süden. Der Tatort liegt auf der linken Seite
im Gebüsch.
Rund 300 Meter hinter dem S-Bahnhof Veddel zweigt in südlicher Fahrtrichtung links eine kleiner Weg ab. Er ist nur etwa zehn Meter lang, steigt leicht an und endet an der Ampelkreuzung Veddeler Straße/Georgswerder Bogen. Wer auf dem Loop bleibt, fährt nun vor Erreichen der Eisenbahnunterführung eine ganz leichte Rechtskurve. Um Autos die Durchfahrt zu verhindern, sind rotweiße Pollenstangen im Boden eingelassen. Der Belag ist an dieser Stelle holprig. Rechts hat der Kleingartenverein Hoffnung von 1931 sein Vereinsheim. Auf dem Dach ist eine kleine Videokamera installiert, die den Parkplatz der Schrebergärtner überwacht. Ein entsprechendes Schild weist am grünen Metallpfleiler der Zufahrt darauf hin. Hat die Kamera auch den Loop im Blick? Wahrscheinlich nicht. Sie zielt nur auf den Parkplatz. Alles andere widerspricht wohl möglich Datenschutzbestimmungen.
Hinweisschild am Kleingartenverein
Hoffnung

Weniger als einen halben Kilometer illuminiertes Asphaltband trennt die Radfahrerinnen von ihrem mutmasslichen Ziel. Sie sollten es leider nicht erreichen. Noch vor der sanften Rechtskurve fallen die Frauen ihren Peinigern in die Hände. Der Radweg kurz vorm Hoffnung-Clubheim wird völlig unvermittelt zu einem Ort der Verzweiflung. Auf der linken Loop-Seite weitet sich das Begleitbepflanzung der Autobahnanschlussstelle Georgswerder zu einem breiten Grünstreifen. Ein kleiner Trampelpfad führt ins Dickicht. Auf dem schwarzen Boden liegen übereinander getürmt ein paar Äste. An ihnen kleben Zahlen der Spurensicherung. Hier also ist es passiert. Auch in Zweigen sind die Ziffern der Kriminaltechniker zu entdecken - keine drei Meter vom Radweg entfernt.
Das Material der Spurensicherung
liegt noch im Grünstreifen

Absolute Sicherheit gibt es nicht. Auch der beste Radweg durch Grünanlagen lässt sich offenbar nicht komplett überwachen. Verkehrsplanern und Behörden kann man keinen Vorwurf machen. Der Loop ist so gut oder schlecht wie jeder andere Radweg auch, der durch begleitende Vegetation hier und da unübersichtlich wird. Baulich gibt es da wenig Chancen - zumindest auf vertretbarem Niveau. Etwas anders schätze ich allerdings die präventiven Möglichkeiten ein.
Illegal errichtetes Zelt neben der Eisenbahn-
Unterführung

Matratzen wenige Meter neben der Tatstelle
Wenige Schritte von den Tatortmarkierungen liegen ein paar Matratzen im Gebüsch. Nur Müll? Oder eine Schlafstätte? Mitten im Geäst hängt ein blauer Sack, vollgestopft mit leeren Schnapsflaschen  Darunter eine braune McDonaldstüte mit Fastfood-Resten. An der Eisenbahnunterführung hat jemand ein kleines Zelt aufgebaut. Dahinter türmt sich illegal entsorgter Unrat. An verschiedenen Stellen sind Trampelpfade ins Unterholz zu entdecken. Wer geht hier lang? Wohin führen diese Wege?

Wilhelmsburg hat ein Müllproblem. Leider! Grünanlagen werden viel zu oft als Entsorgungsstellen missbraucht. Eine effektive Überwachung, Fahndung und Bestrafung findet nicht statt. Das beeinträchtigt das Sicherheitsgefühl. So viele Kühlschränke, Möbel und vollgestopfte Plastiksäcke finden sich in keinem anderen Stadtteil. Kein Wunder, denn Wilhelmsburg hat viele versteckt liegende Grünstreifen und Brachflächen, Müllsünder treiben unbehelligt ihr Unwesen. Ganz klar: Schlecht gepflegte Flächen mit hohem Bewuchs, uneinsichtigen Trampelpfaden und illegalen Müllentsorgungsverstecken begünstigen Straftaten. Hier sollte man ansetzen.
Tatort: Auf diesen Zweigen entdeckte die Polizei Spuren der
versuchten Vergewaltigung

Zur Täterbeschreibung heißt es im Polizeibericht: "Die Täter konnten von den Geschädigten wie folgt beschrieben werden: - 1,70 m bis 1,75 m groß - "südländisches" Erscheinungsbild - schlanke Figur - kurze, dunkle Haare - einer der Täter war mit einer hellen Oberbekleidung bekleidet. Die Bekleidung der beiden Täter war nach der Tat möglicherweise blutverschmiert. An den sofort eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen waren insgesamt fünf Funkstreifenwagen und der Polizeihubschrauber "Libelle 2" beteiligt. Die Fahndungsmaßnahmen führten allerdings nicht zur Festnahme der Täter.
Fluchtwege gibt es in dieser Gegend leider viele. Auf der anderen Seite der Kreuzung verläuft ein unbefestigter Weg unter der BAB 252 hindurch und verschwindet in einer weiteren Kleingartensiedlung mit einer Abzweigung zum Niedergeorgswerder Deich. An dem wiederum liegt der Georgswerder Ring, eine Siedlungsstraße die wahrscheinlich deutschlandweit einmalig ist. Die Kripo wird sicherlich auch hier ermittelt haben. Und bestimmt auch auf dem LKW-Rasthof an der Shell-Tankstelle im Georgswerder Bogen. Neben LKW-Fahrern übernachten hier auch gerne Wanderarbeiter aus dem Balkan in ihren Autos.
So sieht der Radweg Richtung Norden aus, als die Blickrichtung
der Täter

Etwas abseits parkt ein silberner Passat mit bulgarischen Kennzeichen. Neben der geöffneten Beifahrertür steht der korpulente Fahrer mit freiem Oberkörper und uriniert ins Gras. Für den Parkplatz werden Gebühren erhoben und er wird bewacht. Aber ein hohes Sicherheitsgefühl vermittelt er dennoch nicht. Haben hier in der Tatnacht verdächtige Fahrzeugbewegungen statt gefunden? Auch das wird die Polizei recherchiert haben. Zu Festnahmen kamen es aber leider nicht.

Kann man sich gegen gewaltsame Übergriffe auf Radwegen schützen? Und wenn ja wie? Mir fallen dazu folgende Strategien ein:
-Nähert man sich auf dem Fahrrad von hinten dubios erscheinenden Gestalten, besser lautlos bleiben statt zu klingeln und die Personen möglichst zügig mit Überraschungsmoment überholen.
-Sind potentielle Gefährder in der Gegenrichtung unterwegs, haben diese Zeit die Situation zu analysieren. Das erscheint mir als besonders gefährlich und war ja auch in diesem Fall so. Dann hilft wahrscheinlich eine Tempoerhöhung und möglichst entschlossenes Auftreten. Im Zweifel sollte man vielleicht sogar auf die möglichen Täter zuhalten und erst im letzten Moment ausweichen.
Die beiden Täter sollen über die BAB-AS Georgswerder
geflohen sein
-In jedem Fall finde ich einen möglichst hellen Scheinwerfer und einen lauten Alarmbuzzer hilfreich. Ein Freund von mir rät seinen Töchtern, stets Pfefferspray griffbereit in der Tasche mitzuführen.

Dass es am Ende nur bei der versuchten Doppelvergewaltigung blieb, ist ein schwacher Trost. Ein Zufall oder die Nähe der Kleingarten-Party sorgten dafür, dass ein Zeuge die Hilferufe der Frauen vernahm. Sie ließen von ihnen ab und flüchteten. Wie es in den beiden Opfern aussieht, kann man nur erahnen. Werden sie wieder unbeschwert Radfahren können? Auch nachts? Oder bleibt ein Trauma?
Kreuzung Veddeler Straße/Georgswerder
Bogen: Wohin sind die Täter geflohen?

Bis zum 14. Juni sind keine weiteren Ermittlungsdetails bekannt geworden. Auch Phantombilder und einen Fahndungsaufruf konnte ich bislang nicht entdecken. Bleibt zu hoffen, dass die Polizei die flüchtigen Täter ausfindig macht und per DNA-Spuren überführt. Vielleicht nützt ja auch ein Bericht in der beliebten Sendung "Aktenzeichen xy ungelöst".




Wer hat was zur Aufklärung beitragen kann, meldet sich hier:Polizei Hamburg, Telefonnummer 040/4286-56789.

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