Heute ist ein schöner Tag. Die Sonne scheint. Ich sitze im Büro. Mist! Bei diesem Wetter wäre ich gerne draußen. An der frischen Frühlingsluft. Auf dem Rad natürlich - tief atmen, treten, den Wind im Haar und die wärmenden Strahlen im Gesicht. Statt dessen recherchiere ich über Verkehrspolitik, Umweltverschmutzung, Unfälle und Staus. Und dabei entdecke ich das hier und versinke in tiefschürfende Gedanken über die Spiegel-Titelgeschichte längst vergangener Tage.
Der Spiegel-Titel stammt vom 5. Mai 1980. Das ist 34 Jahre her, aber noch immer aktuell. Ja, er ist aktueller denn je. Jedenfalls aktueller als 1980. Ich bin sicher: Die gleiche Titelstory könnten die Kolleginnen und Kollegen an der Ericusspitze heute wieder so drucken und würden den Zeitgeist treffen. Zwar sprechen neue Studien von einem Rückgang der Radnutzung, doch zumindest in den großen Städten ist der gefühlte Trend, ein Trend zum Rad. Die Analysen und Erkenntnisse aus dem Spiegel vor fast dreieinhalb Jahrzehnten gelten nach wie vor und oft noch mehr als damals.
Während ich so über die Spiegel-Geschichte nachdenke, lenkt mich eine Meldung aus dem Radio ab. Auf der Autobahn hat gekracht. Ein Reisebus hat einen Lkw kurz vor den Elbbrücken in die Leiplanke geschoben - neun Verletzte, zwei davon schwer. Genau diesen Unfall hatte ich heute morgen auf dem Weg in die Stadt gesehen. Ich bin gerade noch ohne Stau durchgekommen und habe gewusst: Das gibt Chaos. Jetzt ist das Chaos da. "Bitte weichen Sie weiträumig aus", sagt der Radiomann. Aber wohin? "Auch in der Stadt ist alles dicht", fährt der Nachrichtensprecher fort. "Überall gibt es erheblich Zeitverluste." Wie gut, dass ich im Büro sitze, denke ich. Nur auf dem Rad wäre es heut noch besser. Oder im Schwimmbad.
Später am Tag kracht es auch noch am Elbtunnel. Noch mehr Chaos. Alles das passt zum obigen Spiegel-Titel. 1980 waren die Spiegel-Geschichten noch lang, richtig lang. So wie die Radfahrer-Geschichte. Über viele, viele Seiten analysiert der Autor die Situation der Radfahrer und den Sinn des Rades als Alltagsgefährt sowie als Sportgerät. Irgendwo tief in den weit über tausend Zeilen steht dann zum Beispiel sowas:
In der Düsseldorfer Innenstadt brachte letzten Herbst eine Demo
klingelnder Zweiradfahrer den Autoverkehr, wie die "Düsseldorfer
Nachrichten" notierten, "für eine Stunde völlig aus den Fugen".
Na, das kennen wir doch. Heute heißt das Critical Mass (CM) und findet regelmässig in großen Städten statt. Auch Düsseldorf hat heute eine regelmässige CM.
Auch die Passage ein paar Absätze weiter hat nichts an Brisanz und Aktualität verloren:
Obwohl nur in Millionen zu zählen, fühlen auch Radfahrer sich,
wenigstens in der Einschätzung ihrer rührigen Fürsprecher, als eine
unterdrückte Minderheit -- verfolgt, verachtet, vergessen, je
nachdem. "Lästige Stiefkinder der Autogesellschaft" (ein ADFC-Papier) sind
sie, denen der Staat nicht einmal die steuernmindernde
Kilometer-Pauschale gönnt.
Immerhin wird an dieser Stelle eine Entwicklung deutlich. Denn die steuermindernde Kilometerpauschale gönnt uns das Finanzamt ja zum Glück inzwischen. Doch der Rest der Textpassage ist mehr oder weniger noch immer zutreffend; noch immer sind Radfahrer in Deutschland Stiefkinder der Autogesellschaft. Richtig geliebt wird der umweltbewusste Tretradfahrer auch heute noch nicht. Auch wenn es endlich besser zu werden scheint.
Deutschland hat sich anders entwickelt als Holland. Großstädte sind nicht zu einem zweiten Kopenhagen geworden. Der Spiegel steigt tief ein in die soziologischen Hintergründe unserer Liebe zu PS, Lack und Blech und versucht sich an der Analyse, warum wir das Fahrrad in der Wirtschaftswunderzeit und auch noch danach lange verdrängt haben.
Der Umstieg vom zugigen Sitz auf hartem Sattel in die Fauteuils
heizbarer Limousinen vollzog sich so in aller Stille, ohne Trauer.
Radfahrwege, eigentlich um so notwendiger, je mehr sich das Auto
verbreitete, fielen bei den Stadtplanern meist nur noch als
"Abfallprodukt der Straßenplanung" (ein Hamburger Baubeamter) an.
Selbst vorhandene Radlertrassen wurden "zunehmend als
Verkehrsflächen für das Auto zweckentfremdet", so Heiner Monheim,
Referatsleiter in der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und
Raumordnung.
Zum Glück gehört diese Sprache der Radverkehrspolitik der Vergangenheit an. Von Radwegen als "Abfallprodukt" wird heute keiner mehr offen sprechen mögen. Aber intern? Wie ist die Tonalität bei Behörden, Ämtern, der Polizei? Ich werde den Eindruck nicht los, dass dort noch immer falsch geplant und blockiert wird. Beispiel Norderelbbrücke in Hamburg: Ein Initative in Wilhelmsburg setzt sich für die Öffnung des Busstreifens für Radfahrer ein, um so die gefährliche Sitaution auf den engen Radwegen an den Brückenrädern zu entschärfen. Trotz positiver Machbarkeitsstudie lehnt der HVV bislang aus Sicherheitsbedenken ab.
Dass speziell die Radwegnutzung oft die gefährlichere Variante als die Fahrt auf der Straße ist, gilt inzwischen als gesicherte Erkenntnis und wurde bereits 1980 vom Spiegel so beschrieben:
In Sicherheit wiegen darf sich der Radler nicht einmal auf seinem
eigenen Terrain, den Radfahrwegen -- das oft genug sowieso
unpassierbar ist, weil mit geparkten Autos oder mit Mülltonnen
vollgestellt. Den Blick abwärts, ständig auf der Hut vor Scherben
von der letzten Karambolage oder zersplitterten Flaschen, droht ihm
gleichzeitig von links dauernd Gefahr durch unversehens sich
öffnende Schläge haltender oder parkender Wagen.
Daran hat sich nichts bis wenig geändert. Und auch daran nicht:
Ganz dicke kommt es, wenn die Radwege enden, meist abrupt und dann
oft genug auch noch an Orten erhöhter Gefahr wie Straßenengpässen.
Weil die Straßenverkehrsordnung (StVO) dem Radfahrer die rettende Flucht selbst auf leere Bürgersteige
verwehrt, bleibt ihm nichts, als sich unter die Motorisierten zu
mischen, ohne Knautschzonen wie ein Nackter im Getümmel gerüsteter
Ritter. Sich vorschriftmäßig weit rechts haltend, balanciert er nun auf
einem Grat über zwei Abgründe dahin: Auf der einen Seite lauern
wieder jäh aufschnappende Parker-Türen; auf der anderen ziehen,
meist dezimeternah und luftstoßweise zu spüren, die mehr als dreimal
so schnellen Verkehrspartner hinterm Steuer vorbei, mit denen er
sich die Trasse teilen muß.
Junge, Junge, hier dreht der Schreiber in der Spiegel-typischen Sprachverliebtheit jener Jahre aber richtig auf. Das hätte wohl genau so heute keine Chance mehr bei der Schlußredaktion.
Wie beim Spiegel bis heute üblich changiert der Text zwischen deskribtiven Passagen und harten Fakten:
48 881 Radler, darunter 21 497 Kinder, verunglückten 1979
in der Bundesrepublik, 1064 wurden getötet. Das waren zwar nur 9,8
Prozent der Unfallverletzten und 8,9 Prozent der Verkehrstoten,
aber: Nach Berechnungen des ADAC ist das Risiko der Radler, bei
einem Unfall verletzt oder getötet zu werden, fünfmal so hoch wie
bei Autofahrern.
Das finde ich interessant und schreit nach einem Vergleich, den ich beim Statistischen Bundesamt gefunden habe:
Die Zahl der verletzten Fahrradfahrer betrug 2012 74 776, darunter 406 Getöte.
Das ist nun wirklich sehr spannend: Fast 49000 Verletzte 1979, 74776 rund 30 Jahre später. Wie kann das sein? Die Wende und Wiedervereinigung ab 1989 hat die Statistik offensichtlich stark beeinflusst. Knapp 75000 verletzte Fahrradfahrer ist aber noch immer eine erschreckend hohe Zahl; immerhin hat sich die Zahl der Getöteten mehr als halbiert.
Von der Sicherheitsthematik wechselt der Spiegel dann zur Bedeutung des Rades als Freizeit- und Hobbygefährt:
Was den Käufergeschmack anlangt, verzeichnen Hersteller wie Händler
nun zunehmend "einen Trend zum teureren und technisch hochwertigen
Fahrrad" (Allenberg). Lag der Durchschnittspreis der auf dem
deutschen Markt abgesetzten Räder 1974 noch zwischen 260 und 280,
beträgt er mittlerweile, bei nur relativ geringen allgemeinen
Preissteigerungen in der Branche, schon zwischen 350 und 400 Mark.
Und damit legt das Rad eine weniger rasante Entwicklung hin als das Auto. Denn heute liegt der Durchschnittspreis für ein neues Rad bei 658 Euro, es ist also rund drei Mal so teuer. Ein einfacher VW Golf kostet Anfang der 80er rund 9000 Mark; heute ist er etwa vier mal so kostspielig.
Im hinteren Drittel des Artikels greift der Autor dann nochmals in die Sprach-Trickkiste und lässt einen verkopft formulierenden Manager von der Elbe zu Wort kommen. Das hätte er lieber nicht tun sollen:
Je edler das Gerät, desto erhabener das Fahrgefühl. Ist doch, wie
ein Hamburger Manager empfindet, der feierabends zur Ertüchtigung in
die Pedale einer Rennmaschine steigt, "der ästhetische Faktor für
Individualisten bei der Beherrschung des Rennrades und seiner
komplizierten Technik wie auch der mehr oder minder harmlose
Abenteuerfaktor beim Fahren mit Kraftfahrzeuggeschwindigkeit, beim
Fertigwerden mit den zahlreichen Pannen und Defekten nicht zu
verkennen".
Oh je, geht es noch? "...harmloser Abenteuerfaktor beim Fahren mit Kraftfahrzeuggeschwindigkeit..." - ich kann's nicht glauben. Wie kann man so reden? Oder war das 1980er der Stil selbstberufener Intellektueller? Wie auch immer: Der Satz hätte es nie in den Spiegel schaffen dürfen. Heute nicht. Und 1980 auch nicht.
Fast zum Schluss geht es auch noch um China. Die Entwicklung auch zu einer automobilen Weltmnacht war damals offenbar nicht abzusehen:
Geht es nach Politikern..., geschieht den Autofahrern nur
recht. Und wenn bei den Chinesen auch manches nicht in Ordnung ist
-- die dominierende Stellung des Fahrrads im Straßenverkehr dort muß
manchen Radler in der vollmotorisierten Bonner Republik schon
wehmütig machen.
Da haben sich die Zeiten aber dann doch extrem geändert. Heute hält China die deutsche Autoindustrie über Wasser. Fahrradfahren mag da heute keiner mehr. Lieber SUV mit zwölf Zylindern oder lieber gleich ein Privatflugzeug. Bis China den Seegen des Radfahrens erkennt, wird es Jahre dauern. So um die 35 schätze ich.
Wer den ganzen Artikel lesen will, findet ihn hier.
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