Montag, 27. Mai 2019

Radfahren und Kino: Eine ganz besondere Nacht

Es war nur eine kleine Notiz in der "Elbvertiefung", dem Newsletter der ZEIT Hamburg: "A wall is a screen", stand da. Open-Air-Kino an wechselnden Orten. Fassaden, Brücken, Silos und Mauern werden zu Leinwänden für Kurzfilme. Und das alles mit dem Fahrrad. Start 22.15 Uhr am Südportal des Alten Elbtunnels. Hammer! Da musste ich dabei sein.
Eine gute Entscheidung. Denn meine Erwartungen an diesen speziellen Kinoabend wurden mehr als erfüllt. Es war ein Erlebnis der Extraklasse.

Um 22 Uhr bin ich am Elbtunnel. Pausenlos spuckt der Personenaufzug Radfahrer aus. Die Pflastersteine der Tunnelzufahrt reflektieren weiße und rote Fahrradlampen. Schon jetzt stellt sich eine nahezu mystische Stimmung ein. Plopp, etliche Besucher köpfen Bierflaschen. Nein, ein lauer Sommerabend ist dieser 24. Mai nicht. Es ist frisch. Ein böiger Westwind bläst über die Elbe, Dicke-Jacken-Wetter. Auf eine helle Fläche des gegenüberliegenden Backsteingebäudes ist ein Logo projektziert. Es zeigt den stilisierten Telemichel eingerahmt von Hochhhäusern, darunter ein klassischer Filmstreifen samt Perforation.
Alles andere als klassisch ist die Technik, die zum Einsatz kommt. Das wird spätestens klar, als der erste Film startet. Ein Fahrradstrreifen, was sonst? Die Veranstalter legen offenbar wert auf thematisch stimmiges Material. Also flimmert ein, ich sage mal, psychadelisch angehauchter Bike-Kurzfilm auf der alten Hausfassade. Aber was heißt hier flimmert? Hier flimmert nichts. Sondern der Beamer wirft trotz des Umgebungslichts superscharfe Bewegtbilder an die Wand. Trotz des steilen Projekttionswinkels ist keine Verzerrung erkennbar - echt großes Kino!

Und dann der Sound! Der perlt laut und völlig verzerrungsfrei aus zwei kleinen Lautsprechern, die die Orga-Crew vor den Zuschauern mit Hilfe von zwei hohen Stativen aufgebaut hat. In einem Fenster geht plötzlich Licht an. Hände schieben die Gardine zur Seite. Dahinter neugierige Blicke auf den Platz. Der eigene Wohnort wird halt nicht jeden Tag zum Kinosaal. Selbst in 30 Metern Entfernung sind Musik und Stimmen noch glasklar zu genießen. Das ist Technik vom Feinsten. Und nach dem ersten Act ist alles in fünf Minuten auf mehreren Fahrradanhängern verstaut und der eigenartige Tross setzt sich zügig südwärts in Bewegung.

Nach rund einem Kilometern der erste Stopp. Leinwand dieses Mal: ein weißer Silo der Getreide AG. Und wieder passt der Film. Und wie! Gezeigt wird der Schwarzweiß-Streifen "Ware unterwegs" von Abaton-Gründer Werner Grassmann. Eine Art Sendung mit der Maus für Fortgeschrittene über den Warenumschlag im Hafen. Geradezu sensationell ist die begleitende Moderation von Kabaretist Werner Finck. Etlich Lacher bestätigen die unglaubliche Komik, die der Entertainer in seinen Kommentar legt. Applaus für die Macher: Wieder wirklich großes Kino.

Technik im Trailer, Beamer auf dem Stativ
Weiter zu Leinwand Nummer drei. Diese bildet der Betonunterbau der Brücke über die Klütjenfelder Straße. Industriecharme pur: Überall Lagerhäuser, Kanäle, Kräne, Gleise. Und auf denen wird auch um 23.30 Uhr gearbeitet. Eine rote Diesellok stösst Güteranhänger bollernd Richtung Hafenbahnhof. Ganz vorn auf dem ersten Wagon sitzt eine orange Leuchtjacke mit Laterne. Trotz der starken Geräuschentwicklung ist der Sound erneut von überraschend guter Qualität. Ebenso das Bild. Und das trotz der abgewinkelten Leinwand, denn in der Bildmitte macht die Brücke einen 90-Grad-Knick.

Und der Film? Gefällt mir dieses Mal nicht so gut. Geht irgendwie um das Schicksal einer Frau. Sie erzählt aus dem Off, melancholische Bildfolgen stützen ihren Narrativ; muss man mögen. Ich mag's nicht und widme mich darum an dieser Stelle der Technik. Wie zuvor thront der Beamer auf einem Stativ und wirft sein beeindruckendes Bild im recht steilen Wnkel an die Brücke. Links und rechts daneben wieder die beiden Stativlautsprecher. Das alles ist mit einem Laptop und einem kompakten Mischpult verbunden; beides platziert auf einem winzigen Fahrrad-Trailer. Mit Strom versorgt wird all das von einem kleinen Honda-Stromerzeuger, der auf einem weiteren Anhänger verblüffend leise vor sich hin surrt. Sollte ich mal eine mobile Stromquelle brauchen, dieses Gerät wäre meine erste Wahl.

Ich schätze mal, dass Soundanlage und Beamer doch schon einiges an Leistung benötigen. Das Mini-Aggregat hat sie völlig schwangungfrei und problemlos geliefert - beeindruckend.

Noch beeindruckter bin ich vom Tempo, mit dem die Filcrew das Equipment jedes Mal auf- und abbaut. Da wuseln jedes Mal eine Handvoll Warnwestenträger durch die Gegend, zieht Kabel, stellt Stative auf und startet den Film. Verrückt wie eingespielt und reibungslos das jedes Mal klappt.

Nächste Station ist die große Wand des Wohnhauses an der Einfahrt zur Fähstraße. Dieses mal wird der Deich zur Naturtribühne für die knapp 200 Zuschauer. Fahrräder liegen im Gras, ihrer Fahrer direkt daneben. Plopp, einige haben noch frisches Bier. Ich hätte auch gerne eines. Kurz überlegt: Nächster Kiosk? Stübenplatz. ZU weit. Dann verpasse ich den Film. Das wäre schade. Denn der Animationsstreifen der jetzt in die Nacht strahlt ist sehenswert. Plötzlich bremst ein altes Mercedes-Taxi. Der Fahrer schaut auch zur Mauer hoch und scheint ähnlich fasziniert wie das Kinopublikum. Bunte Muster tanzen, wachsen, schrumpfen, drehen sich wild hin und her - so in die Richtung stelle ich mir einen LSD-Rausch vor. Nur was diese Art Film mit dem Reiherstiegviertel zu tun haben soll leuchtet mir nicht ein. Aber ich muss ja auch nicht alles verstehen.
 

Weiter geht's. Ich bin neugierig. Welche Wand kommt als nächstes. Zinnwerke? Honigfabrik? Soul Kitchen Halle? Nö, der alte Lidl-Markt im Vehringhof wird angesteuert. So sauber habe ich den Vorplatz lange nicht gesehen. Kein Wunder: Die Veranstalter-Team hat die Fläche tagsüber gefegt. Was für ein Einsatz. Mit den 200 Teilnehmern ist der Platz brechend voll.

Letzter Stopp:der alte Flakbunker in der Neuhöfer Straße, eines der Wahrzeichen von Wilhelmsburg. Auf seiner Rückseite ist es besonders dunkel. Und leider auch windig. Der Film ist lustig, meine Jacke aber zu dünn. Also schaue ich nur kurz zu, wie ein 68-Männerquartett wild rumdiskutiert.

Liebe Veranstalter, das müsst ihr unbedingt noch Mal machen, bitte, bitte. Das war, ich wiederhole mich gerne, großes Kino. Da waren viele Leute. Da habt ihr ganz tolle Technik am Start. Und das Fahrrad ist für dieses Format ideal.

Im Rahmen des Kurzfilm-Festivals findet die nächste Veranstaltung statt. Dann aber wie gewohnt zu Fuß. Ich sage: Lieber mit dem Rad. Der Aktionsradius wird deutlich größer. Und damit kommen viel mehr geeignete Gebäude in Frage.

Weitere Info: https://www.awallisascreen.com/


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