Wer Fahrräder repariert, optimiert oder restauriert, kommt an Normen, Maßen und Standards nicht vorbei. Welche Probleme dabei auftreten können, zeigt die Chronologie einer Kinderrennrad-Überholung.
Verrückt, wie schnell ein Kind wächst. Und damit auch das Bedürfnis nach immer größeren Fahrrädern: erst 12 Zoll, dann 16, gefolgt von 20. Mit Schulbginn folgt dann die wohl gängigste Jugendradgröße 24 Zoll. Aber auch aus der wachsen die Kids viel schnell raus als ich gedacht hatte. Für meine Söhne stehe ich inzwischen an der Schwelle zum 26-Zoll-Rad - wenn der Rahmen klein genug ist.Regida DP18 Hinterrad mit Hochprofil |
Erstmal eine Bestandsaufnahme: Der kleine Rahmen wirkt okay, auch wenn er einige Schrammen und Macken hat. Lenker, Dreifach-Kurbelsatz, Vorbau, Sattel und Sattelstange sind zu schwer oder zu kaputt. Auch die Laufräder im ETRO-Maß 571 sind mit 36 Speichen und Vollachsen-Naben eher von der massiven Sorte. Die Anfertigung von zwei neuen Leichtbau-Laufrädern war mir ja schon einen eigenen Post wert. Also ran ans neue Projekt, das von mir den Codenamen 571 kriegt.
Problem 1: der Lenker und Rennradbremshebel
Ein 360 oder 340 Millimeter schmaler Lenker wäre noch besser als dieser 380er |
Das Triax-Rad ist im Originalzustand mit Crosshebeln versehen, weil es einen geraden Lenker besitzt. Diese behalte ich bei und montiere sie am Oberlenker. Durch die kurze Griffweite und hohe Federspannung der Zangenbremsen wirken die Bedienkräfte ziemlich hoch. Mal sehen, wie der Junior damit klar kommt. Falls nicht, müssten wieder die bewährten Tektro RL320 Bremshebel her. Die sind speziell für Kinderhände konzipiert, aber inzwischen leider, leider von der Tektro-Homepage verschwunden. Ich fürchte die Produktion wurde (mangels Nachfrage?) eingestellt. Denn auch in diversen Onlieshops ist der RL320 nicht mehr lieferbar. Wie schade!
Als Alternative gibt es quasi nur die Microshift R10 Hebel in der Shortreach-Version. Und auch die sind nur schwer auftreibbar. Kurzum: Rennradbremshebel für Kinderhände sind extrem selten bis nicht existent. Ich kann mich daher wohl glücklich schätzen, dass ich zwei 24-Zoll-Renner besitze, an denen die RL320 vebaut sind. Der englische Shop, bei dem ich sie bestellt habe, listet sie zwar noch, aber mit dem Zusatz "out of stock". Hallo Tektro, gäbe es sie noch, würde ich gleich zehn Satz auf Vorrat bestellen. Die einzige weitere Option für Kids-Rennbremshebel, die ich aktuell gefunden habe, sind Microshift-Modelle der R-Reihe. Sie werden in einer Shortreach-Variante (S) angeboten und in der Achtgang-Version sogar recht preisgünstig bei Decathlon erhältlich.
Problem 2: die richtige Kurbelgarnitur
Schon in den gängigen Kurbelarmlängen 170, 175 oder 165 Millimeter ist es nicht leicht, gute, schöne und leichte Kurbelgarnituren zu finden. Vor allem solche, mit zwei oder drei Kettenblättern, die auch austauschbar sind. Richtig rar sind hochwertige Kinderrad-Kurbeln mit 150 Millimeter Armlänge. Oder 140. Von Kania Bikes gibt es welche. Die sind mit 651 Gramm sehr leicht, aber nicht ganz billig. Die einzige Kinderrad-Dreifachgarnitur, die ich finden kann, ist die XLC Kid CW-Y 01 mit 152 Millimeter Kurbelarmlänge.
Mit 950 Gramm zwar deutlich leichter als die schwere Kurbel (1240 Gramm), die am Rad montiert war, mir aber noch viel zu schwer. Der Grund: die Kettenblätter sind aus Stahl. Also lasse ich das innere Kettenblatt weg und
ersetze das große und das mittlere durch Ausführungen mit 46 und 36 Zähnen. So erreiche ich ein Gewicht von 740 Gramm bei einem Gesamtpreis von 56 Euro. Und wo gibt's die? Wieder in China. Bei den üblichen Anbietern ist aber die Auswahl sehr begrenzt. Schließlich sollten wieder alle Details stimmen. Im Fall der Kurbel bedeutet das, die Kettenbblätter müssen für Vierloch-Verchraubung geeignet sein und einen Lochkreisdurchmesser von 104 Millimeter besitzen. Und die finde erstmal - wie erwähnt in Alu und mit der gewünschten Zähnezahl... Damit das Ganze auch optisch was hermacht, besorge ich noch Kettenblattschrauben in Gold. Das harmoniert gut mit den rot eloxierten Kettenblättern und der schwarzen Kurbel. Etwas Blingbling darf schon sein, finde ich. Ach ja, auch hier natürlich Alu statt Stahl um ein paar Gramm einzusparen.
Alukettenblätter ersetzen die Originale aus Stahl |
Problem 3: Kettenlinie und Innenlager
Falsche Kettenlinie mit zuviel Schräglauf |
Um eine optimale Rennrad-Kettenlinie von 43,5 Millimeter (gemessenen vom Mittelpunkt des Sitzrohres bis zur Mitte der beiden Kettenblätter) zu erreichen, müsste die Innenlagerwelle rechts 13,5 Millimeter kürzer sein. Rein rechnerisch ergibt sich demnach eine Wellenlänge von 91 Millimeter (118-2x13,5). Solche Lager gibt es nicht. Was tun? Neue Kurbeln suchen? Oder das Ganze irgendwie anpassen?
Probieren geht über studieren. Ich besorge ein Innenlager mit der kürzesten Welle, die ich finden kann: 104 Millimeter von Stronglight. Daraus ergibt sich rechnerisch eine Kettenlinie von 49 Millimeter. Das ist besser als 56, aber noch etwas weg von den angestrebten 43,5. Aber immerhin bewegt sie sich damit im Bereich von 3fach-MTB-Kurbeln. Also schnell die frisch gefetteten BSA-Lagerschalen reingeschraubt, Kurbeln rauf und alles festgezogen, und siehe da: die Kette wandert sichtbar nach links, keinerlei Schräglauf mehr in den mittleren Ritzelpositionen. Alles super? Von wegen! Durch die beidseitig um sieben Millimeter verkürzte Welle, wandern die Kettenblätter rechts zum sieben Millimeter wie gewünscht näher an den Rahmen und verbessern die Kettenlinie. Ziel erreicht. Doch Gleiches passiert auch links: der Kurbelarm wandert auf der Vierkantwelle Richtung Innenlager-Muffe. Und zwar so weit, dass er schleift. Und zwar heftig und sich sogar verklemmt. Shit!
Abfeilen der Kurbel im Bereich des Vierkants |
Kurbelarm ist nicht gleich Kurbelarm. Sie unterscheiden sich nicht nur bei Material, Befestigung, Pedalgewinde, Farbe und der Länge, sondern auch in Herstellung (gegossen, geschmiedet, geklebt...) und Formgebung, was wiederum Einfluß auf den Q-Faktor hat. Shimano machte 2023 Schlagzeilen mit einem Mega-Rückruf von 11fach-Rennradkurbeln. Diese sind mehrteilig geklebt. Da sich die Verklebung lösen kann, ist Rissbildung zu befürchten. Und eine Kurbel, die im Wiegetritt dadurch plötzlich bricht, ist natürlich ein Horrorszenario.
Zurück zu meiner XLC-Kurbel. Bei ihr handelt es sich um ein Low-Profile-Design, heißt: Die Arme verlaufen leicht nach auswärts gekrümmt. Im Bereich der Vierkantaufnahme sind die beiden Kurbeln 30 Millimeter stark. Das ist dicker als die meisten Rennradkurbeln an dieser Stelle. Bis zum Rand der Vierkantaufnahme ist also viel "Fleisch" dran; ich entscheide mich für die Feile. Wird schon gut gehen. Ritscheratsche, rund 400 Hiebe tragen möglichst gleichmässig das Alu ab. Ich messe nach: 27 Millimeter. Das sollte reichen. Die Kurbel rutscht auf den Vierkant und hält gut zwei Millimeter Sicherheitsabstand zum Rahmen. Sauber! Operation geglückt.
Exkurs 1: JIS oder ISO oder was?
12,63 mm Durchmesser bedeuten JIS |
Exkurs 2: Vierkant fetten oder nicht fetten?
Dieses Thema gehört zu den vieldiskutierten Glaubenfragen unter Fahrradmechanikern. Ich habe ein wenig in der Literatur nachgelesen und versuche hier mal Fakten von den Mythen zu trennen. In älteren Wartungs- und Bedienungsanleitungen (etwa von Campagnolo) wird tatsächlich vom fetten des Vierkants und Kurbelschrauben abgeraten. Dahinter steckt die Annahme, dass die Kurbeln mit Fett zu weit auf den Vierkant rutschen, zu viel Anzugsdrehmoment eingebracht wird und insgesamt eine zu loose Verbindung von Kurbel und Welle die Folge ist. Namenhafte Fahrradexperten wie Juliane Neuss, Jan Heine und Jobst Brandt sprechen sich alle für (leichtes) fetten aus. Vor allem lasse sich so das "galling" verhindern; es bezeichnet den Abtrag von Alu aus der Kurbel auf den Stahl der Innenlagerwelle. Neben Kontaktkorrosion führten diese "Verunreinigungen" auf Dauer und unter Last zu Reibungsverschweißungen. Oder praktischer ausgedrückt: Die Alukurbel eines älteren und stark benutzten Fahrrades mit nicht gefettetem Stahlvierkant, lässt sich nur noch extrem wiederwillig oder überhaupt nicht mehr mit einem Kurbelabzieher demontieren. Ich fette deshalb den Vierkant leicht ein.
Exkurs 3: Warum die Kettenlinie so wichtig ist
Ich habe mich lange nicht darum gescherrt, wusste auch nicht so richtig, was das eigentlich ist: die Kettenlinie. Kaputtes Innenlager raus, neues rein. Und zwar das, was gerade rumliegt. Wellenlänge? Egal! Wird schon passen. Gleiches Muster bei den Kurbeln: alte raus, neue rein. Standards, Messungen, technische Daten? JIS oder ISO? Egal! Wird schon passen. Und tatsächlich, meistens passt das irgendwie. Zumindest so, dass das Rad damit fährt und auch schaltet, wenn auch manchmal mit Geräuschen oder schwergängig. Fahrradtechnik kann sehr verzeihend sein.
Doch bei meinen Kinderradprojekten sind mir Ungenauigkeiten nicht egal. Die Junioren sollen möglichst problemfrei und effizient unterwegs sein. Es lohnt sich darum, bei Sheldon Brown alles über die Kettenlinie nachzulesen. In meinen Worten sind es vor allem drei Dinge, warum eine optimale Kettenlinie sinnvoll ist:
-Antriebs-Effizenz
-Schaltperformance
-Verschleiß
Ein Teufelsdreieck ist das. Eines, in dem eine Ecke die andere beinflußt und umgekeht. Schlechte Gangwechsel beeinträchtigen die Effizenz und erhöhen den Verchleiß. Umgekehrt sorgen abgenutzte Ritzelzähne und gelängte Ketten für mässigen Schaltkomfort und miese Kraftübertragung. Eine Kette, die nicht optimal in die Zahnräder greift, verschwendet die eingeleitete Kraft und nutzt das Material noch mehr ab. Hauptschuld an dem allen trägt bei Kettenschaltungen ein (zu) großer Schräglauf der Kette. Also der seitliche Ausschlag zwischen vorderen Kettenblättern und hinteren Ritzeln. Die Kette fluchtet genau genommen eigentlich nur in wenigen Positionen perfekt zwischen vorn und hinten. Bein Einfachkurbeln gibt es hinten nur ein Ritzel, das in einer idealen Linie zum vorderen Kettenblatt steht. Bei Zweifachsystemen sind es hinten zwei Ritzel, die quasi eine Nulllinie bilden, wenn die entsprechenden Gänge eingelegt sind. Und bei Dreifach-Kurbeln sind meist drei hintere Ritzel in perfekter Ausrichtung. Es sind dabei in der Regel die mittleren Ritzel.
Alle anderen links und rechts davon erzeugen einen wachsenden Kettenschräglauf. Aus diesem Grund kombiniert man ja auch nicht großes Kettenblatt vorn mit den größten Ritzeln hinten. Und umgekehrt fährt man nicht "kleinklein", also klein(st)es Kettenblatt vorn und klein(st)es hinten. Vor allem bei Dreifach-Ketteblättern führen diese extremen Gang-Kombinationen zu Problemen mit dem Umwerfer, weil die Kette am Käfig anliegt und Geräusche verursacht. Eine schlecht eingestellte Kettenline verschärft das Phänomen zusätzlich.
Überholung Schaltröllchen |
Übrigens: Die Kettenlinie lässt sich nicht nur durch die Innenlager-Wellenlänge verändern, sondern auch durch Umpositionierung der Kettenblätter auf dem Kurbelspider (Montage innen oder außen, Kurbelschrauben-Spacer...) und Verwendung von Lagerschalenspacern. Außerdem lässt sich hinten die Nabenhülse durch Versetzen der Konen und Verwendung von Spacern auf der Hinterachse nach links und rechts "ausbalancieren". Gleiches gilt für die Verwendung von Spacern auf dem Freilaufkörper - besonders beliebt bei Singelspeed-Bikes. Es gibt dafür extra Spacerkits. Die Distanzscheiben lassen sich so auf dem Freilaufkörper positionieren, dass leicht eine ideale Kettenlinie entsteht und ermöglichen so eine größere Freiheit bei der Wahl der Kurbelgarnigtur.
Lenker, Lager, Kurbel...war's das jetzt mit den Problemen? Leider nein. Bei älteren Mountainbikes und Rennrädern kommt es auch immer wieder zu Schwierigkeiten bei der Wahl der Nabe. Ist das Hinterrad okay, sollte es unbedingt weiter benutzt werden. Denn neue Naben mit Original-Spezifikationen gibt es nur gebraucht oder NOS und damit meist sehr teuer.
Problem 4: Kompatibilität Kassette und Nabe
Moderner Freilaufkörper für 8- bis 10fach Kassette |
Für meine Leichtbaulaufräder brauchte ich neue Schnellverschluß-Naben. Mit einem Siebengang-Freilauf gibt es aber leider keine mehr. Shimano bietet neu nur noch 8/9/10fach-Naben an. Da passt eigentlich keine 7fach Kassette drauf. Zum Glück hilft auch hierfür einen Spacer. Der ist 2,9 Millimeter stark, wird als erstes auf den Freilauf geschoben und ersetzt dort das große Ritzel einer 8fach-Kassette. Bedauerlicherweise sind kurze Freilaufkörper für 7fach-Ritzelpakete, die ich für die elegantere Lösung halte, vom Markt verschwunden. Es gibt Ersatz-Freiläufe analog zu den Naben nur noch in acht- bis zehnfach. Also schiebe ich notgedrungen den Spacer auf den Freilauf, gefolgt von einer 7fach-Kassette, denn die gibt es zum Glück noch zu kaufen und das sogar in verschiedenen Abstufungen.
Sekunde der Wahrheit: Was zeigt die Waage? |
Fazit:
Kindergerechte Teile für kleine Rennräder sind Mangelware. Ob schmale Rennlenker, kleine Sattel, Kubeln mit kurzen Armen und ganz besonders Bremshebel mit kindgerechten Griffweiten - das alles ist nur schwer zu finden. Das macht es nicht nur schraubwütigen Papas und Mamas schwer, entsprechende Räder um- und aufzubauen, sondern auch den Herstellern, spezielle Kids-Racebikes ins Programm zu nehmen. Ich vermute, die Nachfrage ist klein. Zu klein, um dafür ein spezielles Angebot zu schaffen. Wer sich momentan im Segment 24- und 26-Zoll-Kinder-Rennräder umschaut, wird enttäuscht. Lieferbar scheint aktuell nur der Gravel-Racer Rag JR von NS Bikes zu sein. Mit über 1000 Euro ist es auch auf der sehr kostspieligen Seite. Etwa halb so teuer ist das GRVL 520 von Decathlon. Beide Modelle sind mit der gängigen MTB-Laufradgröße 559 ausgerüstet. Ein echtes Straßenrennrad habe ich bei Jaison gefunden. Das Julier 24 rollt auf der Laufradgröße ETRO 520, wiegt unter acht Kilo, kostet aber auch deutlich über 1000 Euro. Etwas günstiger ist das Frog Road 67. Ein hochinteressantes Angebot gibt es, beziehungsweise gab es, bei Decathlon mit dem Van Rysel Triban Road 100. Es nutzt wie mein hier vorgestelltes Projektrad die Laufradgröße 571 und ist/war für 300 Euro sowie einem Gewicht von 10,5 Kilo ein echter Schnapper, leider aber nicht mehr lieferbar. Gleiches gilt fürs Islabike Luath. Die britische Firma ist vor gut einem Jahr leider aus dem Fahrradmarkt ausgestiegen und hinterlässt eine schmerzhafte Lücke. Andere, speziell als Kinder-Rennrad ausgelobte Modelle, verfügen meist über einen ausgesprochen kleinen Rahmen, rollen aber auf 622er Laufrädern.
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