Freitag, 23. Juni 2017

Longtail-Lastenrad im Test: Das Beste kommt zum Schluss

Bicicapace: eine eierlegende Wollmilchsau
Cargobikes für Kinder? Logo, das bedeutet Bakfiets, Christiana, Nihola, Bullit und wie sich nicht alle heißen. Sportliche Fahrer entscheiden sich meist für ein Einspurmodell, wer's gemütlicher mag, kauft eine dieser lenkbaren Kisten mit zwei Vorderrädern - neuerdings gerne auch mit Neigetechnik und E-Motor. Die so genannten Longtailbikes haben dagegen in Deutschland nur wenige Lastenradkäufer auf dem Radar. Völlig zu Unrecht, wie ich durch einen mehrwöchigen Alltagstest erfahren habe. Seit vier Wochen nutzen meine Frau und ich ein Bicicapace Justlong und sind nach anfänglicher Skepsis total begeistert von dem einfachen, aber enorm praktischen Longtail-Bike aus Italien.
Das Justlong von Bicicapace aus Mailand ist ein echter Geheimtipp und hierzulande (noch) extrem rar. Kein Wunder: Deutsche Lastenradkäufer schauen in der Regel auf unsere Nachbarländer Holland und Dänemark. Und dort werden Kinder und Fracht fast ausschließlich vorm Fahrer in einer Holzkiste kutschiert; entweder mit zwei Rädern, oft aber auch als Trike mit zwei Rädern an der Vorderachse. Ganz anders in Amerika: Dort hat offenbar die Pick-Up-Autokultur (das meistverkaufte Wagen in den USA ist seit vielen Jahren der Pritschwagen Ford F 150) dazu geführt, dass auch bei Fahrrädern Lasten auf dem Heck befördert werden. US-Hersteller wie Surly und Yuba exportieren auch nach Europa, ihre Longtails sind aber eher Exoten im Lastenradsegment.
Für Kurzstrecken ideal: Heckbank für den Nachwuchs

In diesem mischt nun auch der italienische Hersteller Bicipace mit. Das Justlong rollt auf dicken 20-Zoll-Reifen, hat einen soliden Rahmen aus Stahlrohren, tiefen Durchstieg und eine schmale, lange Ladefläche über dem Hinterrad, die als Sitzbank für bis zu drei Kinder oder für Lasten aller Art verwendet werden kann. Unser Testbike hat eine umlaufende Alureling und ist damit ideal für den Kindertransport. Eine Sitzbank war nicht montiert. Die haben wir aus einer Decke selbst gebaut und mit Kabelbindern fixiert - klar, nur eine Notlösung. Aber eine, die überraschend gut funktioniert.

Preisfrage: Wie wird unser zweieinhalbjähriger Sohn Henry auf das Rad reagieren. Er ist Bikeprofi, kennt Anhänger genau so wie Front- und Hecksitze, ist schon in Bakfiets und verschiedenen Dreirädern chauffiert worden. Wenn er eine Meinung zu einen Fahrrad hat, dann sollte man die ernst nehmen.
Bike-Laster: ein Umzugskarton passt perfekt auf die Ladefläche

Neugierig nähert sich Henry dem Testobjekt und erkennt die improvisierte Heckbank sofort als seinen Sitzplatz. Links und rechts lassen sich für den Kindertransport zwei große Trittflächen runterklappen. Nach dem das geschehen ist, versucht Henry von unten durch die Albreling auf die Sitzbank zu klettern - vergeblich, zumindest mit aufgesetztem Helm passt sein Kopf nicht durch den Zwischenraum. Also muss ich ihn von oben auf der Rückbank platzieren. Instinktiv greifen seine Hände nach der Reling. Er hält sich fest, blickt nach vorn und sagt: "Los geht's!" Gibt es ein überzeugenderes Argument für dieses Bike?

Erkenntnis Nummer eins: Der Nachwuchs kann das Bicicapace aus eigener Kraft be- und entsteigen. Das ist ein großer Komfortgewinn gegenüber dem klassischen Fahrradkindersitz. Den Helm muss man Kinder aufsetzen oder abnehmen wenn sie auf Bank sitzen.
Maxicosy gegen die Fahrtrichtung und mit Spannbändern sicher fixiert. Der
größere Bruder dahinter passt aufs Baby auf

Nun, Sicherheitsapostel werden fragen, ob man ein Kleinkind ohne speziellen Kindersitz transportieren sollte. Meine Antwort: Ja, denn das wirkt sicherer als es auf den ersten Blick erscheint. Denn Kinder sitzen auf dem Bicicapace ausgesprochen gut und seitlich geschützt. Sie halten sich intuitiv an der Reling fest und genießen die Aussicht. Bei einem Sturz, Aufprall vorn oder von hinten sind sie natürlich weniger geschützt als in einer klassischen Kunststoffsitzschale. Wer diese Sicherheit möchte kann zwei Kindersitze von Yepp auf dem Bicicapace montieren. Nur mit der Bank finden aber sogar bis zu drei Kindern Platz.

Außerdem ist es möglich, eine Babyschale sicher in der Reling zu verzurren. So lassen sich sogar Säuglinge gegen die Fahrtrichtung transportieren, während der ältere Bruder dahinter nach vorne schaut.

Überhaupt ist das Bicicapace ein Transportwunder. Mit Frontsitz und Anhänger erweitert sich die Passagierzahl sogar auf bis zu sechs Kinder - welcher SUV schafft das schon?
Bicicapace: ein perfektes Geschwisterrad

Auch als kombinierter Kinder- und Frachttransporter macht das Bike eine gute Figur. So habe ich aus dem Getränkemarkt drei Kisten Bier abgeholt, während Henry vorne in seinem Römer Sulky die Aussicht genoss.

Last not least ein Wort zum Fahrgefühl: Das liegt klar auf der gemütlichen Seite. Das Bicicapace fühlt sich an wie ein Hollandrad. Die Sitzposition ist sehr aufrecht und nichts für lange Touren. Gleiches gilt für die Shimano-Dreigangnabe. Ihr Übersetzungsspektrum reicht von sehr leicht über leicht bis Cruising-Tempo, das maximal etwa um 15 km/h liegen dürfte - ein Bike also für gemütliche Kurztrips zur Kita oder zum Supermarkt.
Kind und drei Getränkekisten, kein Problem fürs Bicicapace

Dabei fällt angenehm auf, dass Einlenkverhalten und Wendekreis sich kaum von einem normalen Fahrrad unterscheiden. Das Rad fühlt sich überraschend wendig und agil an; eine Ein- und Umgewöhnung ist kaum nötig. Wer Kinder transportiert gewöhnt sich ohnehin eine vorausschauende Fahrweise an. Dann fallen auch die beiden eher mässig verzögernden Rollerbrakes nicht negativ ins Gewicht. Das Bremshebelgefühl ist teigig, der Anhalteweg besonders mit hoher Zuladung ziemlich lang, aus zehn bis 15 km/h aber in der Regel unproblematisch. Befindet sich Fracht auf der Ladefläche neigt das Bicicapace ab etwa zwölf km/h zu Rahmenflittern, wenn der Fahrer die Hände vom Lenker nimmt. Dieses Schicksal teilt es aber mit vielen anderen Fahrrädern.

Wie der "Spiegel" über das Rad berichtet, steht hier.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen