Hammer! Geil! Respekt!
Wahnsinn! Toll! Schick! Wow! Gute Fahrt...! Noch nie bin ich bei den Cyclassics
so oft gelobt und mit guten Wünschen bedacht worden. Das liegt aber nicht an
mir, sondern an dem Fahrrad, das ich über die 100-Kilometer-Strecke gefahren bin.
Denn ich sitze auf einem
Moulton TSR9, also mit Neungang-Kettenschaltung, und ziehe damit die Blicke magisch an. So ein Moulton ist ein sehr
spezielles Gefährt aus England. Es rollt auf kleinen 20-Zoll-Rädern und hat
einen filigranen Gitterrohr-Rahmen. Damit nicht genug: Der vielrohrige
Spaceframe ist in der Mitte teilbar, so dass sich das Voder- und Hinterrad für
einfacheren Transport separieren lässt. Ein ziemlich abgefahrenes Gerät mit
guten Allroundeigenschaften. Aber damit wirklich ein 100 Kilometer langes
Radrennen fahren?
Lange habe ich gezögert.
Radrennen wie die Cyclassics fährt man schließlich mit Rennrädern, nicht auf
spinnerten Konstruktionen von der Insel. Aber ich mag es ja, das Schräge,
Ungewöhnliche, Überraschende. Und so habe ich am Sonntagmorgen meine
Startnummer 3075 samt Transponder am geraden Lenker des Moulton und nicht an
den Rennvorbau meiner Trek-Maschine fixiert. Ein Experiment. Werde ich die 100
Kilometer schaffen? Und wenn ja, wie?
Mit gemischten Gefühlen rolle
ich in den Startblock E. Schuhplatten schaben nervös über den Asphalt. Es ist
kühl; nur rund zwölf Grad. Trotzdem sind viele Mitstreiter kurzärmlig
erschienen – brrrr. Engländer oder was? Oder Wikinger? Irritierte Blicke fallen
auf mein Moulton. In den Gesichtern sehe ich Fragezeichen: Meint der das ernst?
Will der hier wirklich mitfahren?
Ja, will er. Und er will auch
nicht vom Besenwagen aufgefegt werden. Ein Ordner fragt nach meiner
Startnummer. Nur von mir will er sie sehen. Die anderen schaben weiter mit
ihren Klickschuhen über den Boden. Zugegeben, zwischen all der sauteuren
Kohlefaser-Maschinerie wirkt der antiquierte Moulton-Stahlrahmen mit seinen
Winzig-Rädchen wie eine Monty Python-Komödie. Das Rad ist ein Vorkriegs-Doppeldecker
mit Holzpropeller auf einen NATO-Flugplatz voller Eurofighter. Was habe ich mir
dabei nur gedacht?
Zu spät. Das Feld rollt los.
Bevor ich den richtigen Gang finde und rund trete, bin ich fast Letzter. Zum
Glück starten ja noch weitere Blöcke hinter mir. Bis zur Köhlbrandbrücke kann
ich das hohe Anfangstempo zwischen 35 und 40 km/h halten. Doch ich spüre: Das
ist zu schnell. Obwohl mit dem Moulton schon Zeitfahren ausgetragen wurden und
Radidole wie Tom Simpson seine Fahreigenschaften lobten, ist es nicht für dauerhaft
hohe Geschwindigkeiten ausgelegt. Gut, hinten sitzt immerhin ein modernes
Neunfach-Ritzelpaket und der kleinste Zahnkranz sorgt für eine große
Entfaltung, doch biodynamisch ist die Sitzposition auf dem Moulton dann doch
nicht mit einem Rennrad zu vergleichen.
Erfunden hat das Moulton übrigens Alex Moulton der auch die Federung für den legendären Mini verantwortlich war. Seine Grundidee für Fahrräder mit kleinen Rädern war, dass die zur Optimierung des Abrollkomforts gefedert sein sollten. Gedacht, getan: 1962 stellte Alex Moulton sein erstes Fahrrad im Earls Court London vor, vorne und hinten mit neuartigen Federelementen. Mich faszinieren diese so genannten F-Frame-Modelle und ich habe das Gefühl, dass ich mir bald so einen Oldtimer aus den 60ern anschaffen werde.
F-Frame Moulton aus den 60ern |
Bei der Auffahrt über den
Köhlbrand nehme ich Tempo raus – zwangsläufig. Das Moulton ist nämlich
vollgefedert. Wiegetritt macht keinen Sinn. Hohe Gänge und viel Krafteinsatz
auch nicht; die beiden Federelemente kosten einige Watt an Leistung. Also
lieber kleine Gänge mit hoher Frequenz treten. Links donnern schnelle Team-Züge
mit fast doppeltem Tempo an mir vorbei. Immer wieder höre ich von hinten das
typischen Rauschen hochprofiliger Carbonfelgen. Das klingt fast bedrohlich.
Unwillkürlich fahre ich noch ein Stückchen weiter nach rechts. Moulton-Fahrer
hören mehr, sehen mehr, genießen mehr.
Jetzt, wo sich die Felder
sortiert haben, geht es los. Immer wieder höre ich Kommentare: „Toll, hau rein,
was für ein schönes Rad, Respekt, nicht schlecht, cool, saugeil, Hammer...“
Oder auch: „Oh, ein Moulton, wunderbar“, da spricht der Fachmann. Für
Fahrrad-Aficinados und Auskenner sind Moultons absolute Kultvelos. Andere
wiederum können mit der britischen Zweirad-Ikone wenig anfangen: „Verrückt, ein
Klapprad“, solche Einschätzungen höre ich ebenfalls mehrfach. Klapprad, das
klingt normalerweise abschätzig, fast wie eine Beleidigung, ist im Zusammenhang
mit einem Radrennen aber wohl ein Kompliment. Tatsächlich ist das Moulton ein
Zerlegerad. Die Gitterrohrkonstruktion lässt sich in der Mitte mit wenigen
Handgriffen auseinanderbauen – genial. Dennoch ist der Rahmen sehr steif und
der Vortrieb für ein so klein bereiftes Rad ausgesprochen gut.
Wir sind in Niedersachsen. Es
wird wellig. Das bringt neue Erkenntnisse. Bergab erreicht das Moulton
verblüffender Weise knapp 50 km/h; nur treten ist nun nicht mehr drin. Dafür
reicht die Übersetzung nicht. Hektische Tritte bringen mir zudem zu viel Unruhe
ins Rad – keine gute Sache, wenn von hinten Konkurrenten mit 60 km/h und mehr
vorbeiziehen. Ich freue mich über den blauen Himmel. Das Wetter ist besser als
vorausgesagt. Von vorn rechts weht ein scharfer Südwester.
Spätestens jetzt bin ich im
Race-Mode und suche immer wieder den Windschatten von Überholern, um mich an
sie dran zu hängen. Das geht immer mal ein paar Kilometer gut. Dann brauche ich
wieder Erholung, nehme raus, fahre mein Erholungstempo, bevor ich mich wieder
an einen D-Zug ankoppel. Keine Ahnung wie mein Temposchnitt ist; wahrscheinlich
irgendwas um die 30 km/h zu diesem Zeitpunkt. Im Augenwinkel beobachte ich
immer mal wieder ein süß-saures Lächeln, das zwischen Verblüffung und Ablehnung
changiert. Einsames England-Eisen unter lauter Profi-Plastik, das mag auf den
einen oder anderen ein Affront sein.
Schon bei Kilometer 30 habe
ich plötzlich Sehnsucht nach der Verpflegungsstelle. Da ich keinen
Flaschenhalter am Moulton habe (Schraubenlöcher dafür sind aber vorgesehen)
steckt meine Trinkflasche in der linken Trikottasche. Einhändig zu fahren ist
auch nicht ganz so einfach wie auf dem Rennrad, freihändig grenzt an Akrobatik.
Ein Rennlenker wäre nicht schlecht. Es gibt Moulton-Modelle, die werden damit
ausgeliefert. Mein TSR2 ist aber ein Standard-Modell.
Rechts taucht eine Tafel mit
der Aufschrift 50 auf. Aha, die Hälfte ist geschafft. Bald kommt die
Verpflegung. Dort muss ich was essen und die Buddel auffüllen. Aber zum Depot
zieht sich die Strecke. Ich bin nun meist als Alleinfahrer unterwegs. Mein
Hintern schmerzt. Die Überholer sind zu schnell. Oder ich auf einmal zu langsam.
Keine Ahnung. Dann ist sie da, die Verpflegungsstelle.
Stopp an der Verpflegungsstelle |
Gierig stürze ich zwei
Becher runter und lasse meine Flasche auffüllen. Dann hier und da ein
Klönschnack – herrlich, wenn man nicht auf seinen Schnitt achtet und keine
Zielzeitpläne verfolgt. Nach rund zehn Minuten sitze ich wieder im Sattel.
Mann, was eine Pause doch bewirken kann. Ich fühle mich viel frischer, kann
mich immer mal wieder kurzzeitig an schnelle Züge anhängen und plötzlich sind
wir schon in Harburg. Harburg! Da ist das Ziel nicht mehr weit.
Im Ziel nach 100 km |
Elbbrücke, Wilhelmsburg,
Freihafen, wow geht das zügig. Doch in der Hafencity haut mir der Gegenwind
nochmal einen heftig in die Fresse. Ein Muntermacher nach dem Motto: Junge,
bleib wach. Genieße die Strecke. Gleich bist Du im Ziel. Der windige Weckruf
wirkt. Ich stelle nochmals alle Antennen auf Empfang, sauge die Anfeuerungen am
Hauptbahnhof und Jungfernstieg auf. Dann Rasselkonzert auf der
Mönckebergstraße. Was für eine Kulisse! Herrlich! Hamburg hat ein geniales
Rennsportflair. Dann ist er da, der Zielbogen. Geschafft. 100 Kilometer liegen
hinter mir. 100 Kilometer auf eine britischen Fahrrad-Ikone. 100 Kilometer auf
20-Zoll-Rädern. 100 Kilometer, die ich so schnell nicht vergessen werde.
Glückwunsch. Warum auch nicht?
AntwortenLöschen"2001 - Dan Farrell (on NS SPEED) completes the world's longest randonnee, the 1400km London-Edinburgh-London in 100 hours." aus: http://www.moultonbicycles.co.uk/heritage.html#recordsracing
Eine kleine Kritik: ein Moulton ist KEIN Klapprad, sondern ein Zerlegerad! ;-)
Danke für Glückwünsche und Deine Kritik. Natürlich ist das Moulton kein Klapprad, doch die korrekte Bezeichnung Zerlegerad ist wenig verbreitet und etwas sperrig. Darum habe ich das Wort Klapprad verwendet. Auch während des Rennens wurde das Moulton mehrfach als Klapprad beleidigt - wenn das Sir Alex wüsste...;-)
LöschenDu warst einer der wenigen echten Farbtupfer in dieser Plaste-Ansammlung. Jan ist mit seinem 25 kg schweren Holzrad die 55 km gefahren. Tipp Für Dich für's nächste Rennen: Probier's doch mal mit einem Bike Friday.
AntwortenLöschenhttps://www.bikefriday.com/bicycles/road
Hi St-Pedali. Vielleicht ist ja ein richtiges Klapprad-Rennen auch was für Dich? Die Klapprad-WM ist dieses Jahr am ersten und zweiten Mai in Berlin.
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