Mittwoch, 22. April 2020

Essen auf (Fahr)Rädern: Mit dem Bike durch die Bronx

Das kommt in die Tüte: Nudeln mit Tomatensauce im Glas, dazu Apfel und Schokolade -Menü a lá "Gläserei"

Nicht jedes Kind bekommt automatisch ein vernünftiges Mittagessen. Dieser Missstand wird während der Corona-Krise besonders deutlich, weil die Schule für nicht wenige Kids der einzige Ort ist, an dem sie richtig versorgt werden. Die Gläserei, ein Projekt der Wilhelmsburger Zinnwerke versucht, Kinder täglich mit einem nahr- und schmackhaften Mittagessen zu versorgen. Ein Selbsterfahrungsbericht aus dem Sattel meines Fahrrades.

Corona ist da. Sie kam plötzlich. Wie eine alte Freundin stand sie plötzlich vor der Tür. Doch Corona ist nicht nett. Nein, Corona ist auch keine Freundin. Corona ist böse. Corona ist ein Systemsprenger. Sie bringt alles durcheinander: Unsere Routinen. Unseren Alltag. Unsere Kontakte. Unsere Umarmungen. Alles weg. Von heute auf morgen: Kontaktverbote, Ausgangsbeschränkungen, Läden dicht. Schrecklich!

Ich hab's dabei noch gut, weil ich mich persönlich noch ganz erträglich mit der Ausnahmesituation arrangieren kann. Arbeitsteilung mit meiner Frau im Mobile-Office: Einer von uns passt jeweils den halben Tag auf die beiden Kleinkinder auf, der andere arbeitet am Computer und Telefon so gut es eben geht. Wir haben ein große Wohnung, ein Auto und jede Menge Fahrräder für kleine und große Fluchten - auch zu Corona-Zeiten. Einziges echtes Problem: Vorgestern war das Klopapier alle. Der Rewe-Lieferdienst hatte wiederholt keines gebracht. Jammern auf hohem Niveau.
Logistik-Vorbereitungen in der Berufsschuke 13: jede Menge "Wundertüten"
Doch was ist mit den Familien, die viel größer sind, aber viel weniger Platz haben, kein Auto und - sagen wir mal - nicht immer das richtige Essen auf dem Tisch? In Deutschland muss zwar keiner hungern (oder doch?), allerdings fehlt mit geschlossenen "Tafeln" und Schulen vielen Menschen der wichtigste Eckpfeiler einer halbwegs vernünftigen Ernährung. Vor allem in vielköpfigen Familien, die von Soziologen gerne als "bildungsfern" eingestuft werden.

In meinem Stadtteil, der Elbinsel Wilhelmsburg, gibt es laut Statistik besonders viele dieser bildungsfernen Haushalte. Denn Wilhelmsburg war und ist ein Arbeiterquartier, in dem nicht nur besonders viele Menschen mit Migrationshintergund leben, sondern die Stadt erprobte hier in den 70er-Jahren eine verheisungsvolle Methode der Stadtentwicklung: die Großraumwohnsiedlung. In bis zu 13geschossigen Plattenbauten leben viele, viele Menschen auf engstem Raum zusammen. Heute wirken die weißen Hochhäuser eher wie marode Schneidezähne in einem Gebiß, das seinen Zweck schon lange nicht mehr erfüllt. Eigentlich sollte Siedlungsbau Menschen ja verzahnen, zusammenbringen, ein sinnvolles Wechselspiel aus Interaktion, Erholung, Gemeinschaft und Distanz ermöglichen. Ob eine Großraumsiedlung dafür jemals geeignet war, weiß ich nicht. Heute jedenfalls wirkt das damalige Utopia auf mich wie ein Relikt aus der städteplanerisches Experimentierphase der alten Bundesrepublik.

Aber was, bitteschön, hat das alles jetzt mit Fahrradfahren zu tun? Ganz einfach: Ich habe in den Zinnwerken nicht nur meine Fahrradsammlung untergebracht, sondern dank Corona neuerdings auch mein "Mobile Office". Zwangsläufig wurde ich daher mit der Idee der "Gläserei" konfrontiert. In Rekordzeit haben die Macher ein bemerkenswertes Versorgungsprojekt auf die Beine gestellt. Seit zwei Wochen liefert die Gläserei Schulkindern der Stadtteilschule Wilhelmsburg täglich ein Mittagessen. Verpackt ist dieses in praktischen Schraubgläsern aus Glas, daher der Name "Gläserei". Zugegeben, es gibt schönere Namen. Aber sei's drum. Die Sache hat einen wichtigen Vorteil: Glasgefäße lassen sich unkompliziert im Wasserbad erhitzen. Und sie sind prima wiederverwendbar. Und so nimmt die Sache ihren Lauf.
Fritz (3) und Henry (5) sind die jüngsten Helfer der "Gläserei". Aber welcher ist welcher?

"Kannst Du nicht auch eine Tour übernehmen?" So lautete also die Frage an mich. Eine Frage, auf die es kein nein geben kann: Spielplätze sind ja zu. Alles andere, was man mit Kindern machen kann irgendwie auch. Und statt Fußballsspielen auf dem Rasen, können Fritz (3), Henry (5) und ich doch auch zwei Stunden lang Mittagessen ausfahren. Natürlich mit dem Fahrrad. Alles andere macht auf der mir zugeteilten Route keinen Sinn - sehr eng, keine Parkplätze, kurze Distanzen. Also ideal fürs Rad. Erstaunlicherweise verstehen meine beiden Jungs tatsächlich schon ansatzweise, um was es geht. "Wegen Corona haben die nichts zu essen", sagt Henry und trifft damit die Sache ja auch irgendwie.

Los geht's: Um 10.30 Uhr beladen wir drei unseren Kinder-Fahrradanhänger an der Küche der Berufsschule in der Dratelnstraße mit 14 Tüten. Darin ist heute ein Nudelgericht mit Tomatensauce, Krautsalat als Beilage und ein Schokoladenkäfer.
Häusereingang im Korallusviertel: eher Bananrepublik als führende Industrienation

Dann fahren wir in die Thielenstraße. Sie führt über die Gleise der Fern- und S-Bahn und mündet dann ins Korallusviertel. Mit den beiden Kindern plus dem Essen an Bord wiegt mein Anhänger gut 50 Kilo, eher mehr. Vorgespannt ist mein Eigenbau-Singelspeed mit Flachland-Übersetzung (13 Zähne Freilaufritzel). Die Folge: Nur im Rollator-Tempo komme ich die Steigung hoch. Gerade noch kriege ich die Kurbeln gedreht - das ist halbe Schrittgeschwindigkeit. Aber egal, wir haben ja Zeit

Die Gegend besteht aus zahlreichen Hochhäusern, wenigen Altbauten und funktionaler Nachkriegsarchitektur. Vor allem die Plattenbauten in der Korallusstraße haben ihre besten Tage schon lange hinter sich. Sie werden momentan saniert. Und zwar am offenen Herzen. Wie man so etwas Menschen zumuten kann, ist mir ein Rätsel. Überall liegt Bauschutt. Die Klingeltafeln sind mit Klebeband abgetapt und tragen die Aufschrift "Defekt". Auch ein Blick auf die Bfriefkastenanlage hilft nicht weiter. Die Namen sind mit simplen Aufklebern angebracht; viele verblichen, angepult oder komplett entfernt. Wie soll ich hier nur die Familien finden, die das Essen kriegen?

Ich habe Glück. Nach einigem Rätseln entdecke ich den gesuchten Namen. Doch in welchem Stock wohnen die? Aber ist auch egal. Der Aufzug ist eh kaputt. Also laufe ich jedes Stockwerk einzeln ab. In dieser Art Architektur bedeutet das: Treppe hoch, Tür auf, durch den Außenflur, nächste Tür auf, Innenflur und dann die Klingelschilder suchen. Wenn denn welche da sind. Doch wieder habe ich Glück, fast zumindest: Im sechsten von acht Stockwerken finde ich meine Familie. Ich drücke den Klingelknopf. Es dauert einige Zeit. Dann öffnet ein kleiner Junge verstohlen die Tür: "Ja, bitte", sagt er und blickt verwundet. "Ich habe Essen für Euch. Und Hausaufgaben", sage ich. Leicht zu sehen, was mehr Begeisterung bei ihm auslöst.

Und so geht es weiter. Die nächste Adresse liegt in der Buddestraße, gleich um die Ecke vom S-Bahnhof Wilhelmsburg. Die Buddestraße ist berühmt-berüchtigt. Hier hatte auf einer Wiese neben der Schule im Jahr 2000 ein Kampfhund den türkischen Knirps Volkan totgebissen. Der Spiegel berichtete über den Vorfall und taufte das Terrain treffsicher auf den Namen "die Bronx des Nordens". Und durch die fahre ich gerade, mit dem Fahrrad und zwei Kleinkindern. Von der einstigen Rauheit ist zumindest augenscheinlich nichts mehr zu sehen; ein sozialer Brennpunkt ist das Korallusviertel aber immer noch. Ob Kleindorfstraße oder Wilhelm-Strauss-Weg - hier wohnen überwiegend vielköpfige Familien mit wenig Geld. Ob sie wirklich auf das gelieferte Essen angewiesen sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Aber dass es ihnen hilft, den schwierigen Alltag zu meistern, ist ohne Zweifel.

Nach dem Korallusviertel geht es rüber nach Kirchdorf. Was für ein Kontrast. Die ruhigen Wohnstraßen werden dominiert von schmucken Einzelhäusern. In den Auffahrten parkt oft ein neuer SUV, manchmal sogar ein Porsche oder Oldtimer. Hier soll es Bedürftige geben? Also zumindest solche, die sich gegenüber dem Behörden offiziell als unterstützungsbedürftig erklärt haben? Und ja, die gibt es auch hier. Schon bevor ich die gesuchte Hausnummer erkenne, wird deutlich, um welches Haus es sich handeln muss. Zwischen zwei geleckten Eigenheimen mit gepflegten Vorgärten liegt ein stark in die Jahre gekommenes Siedlungshaus. Dort soll das Essen hin.
Auch mein alter Fahrrad-Anhänger kommt für die Auslieferungen der "Gläserei" zum Einsatz




Eine Banane zur Belohnung nach erledigter Tour.
Nach zwei Stunden und 10 Kilometern sind wir durch mit der Tour. 14 Tüten haben wir abgeliefert. 14 Mal hoffentlich für Freude gesorgt. Mindestens einmal, da bin ich sicher, ist uns das gelungen: bei einer Familie im dritten Stock eines Hochhauses. Dort warten drei schwarze Jungs mit ihrer kleinen Schwester vor der Wohnungstür. Im dunklen Flur sind sie kaum zu erkennen. Alle vier strahlen. Ein Strahlen, dass Du so schnell nicht vergißt: hell, ehrlich, ergreifend. Und dabei ist es völlig egal, ob sie dunkelhäutig sind, chinesicher Abstammung, türkischer Herkunft oder von einem Hambuger Jung kommt. Denn als sie die Tür wieder geschlossen haben, höre ich ein lautes "coooool". Und dieses Wort ist wahrlich international und kommt hier und heute von Herzen.

Diese Kinder freuen sich. Es klingt herzlich. Allein für diesen Moment hat sich die Tour gelohnt. Auch für mich. Möge das begeisterte "cooool" dieser Tage noch möglichst oft und laut durch die Flure schallen.

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