Montag, 20. August 2018

Cyclassics 2018: St-Pedali mit neuem Streckenrekord

GettyImages: Profis kennen keine Reifenpannen
Schon zum 23. Mal fanden die Cyclassics in Hamburg statt. Genau so lange versuche ich, meine persönliche Bestmarke aufzustellen: die vier vor dem Komma! Gestern hat's geklappt. Ich habe einen neuen Streckenrekord geschafft. Und der wird sicherlich lange Bestand haben.
36,4 km/h, 37,7, 38,8, 39,3 Kilometer pro Stunde - ja, es gab Jahre, da war ich einigermassen fit und bin mit ordentlichem Durchschnittstempo durch den Torbogen auf der Mönkebergstrasse gerauscht. Nur die vier vor dem Komma, also die magische 40er-Marke wollte nie fallen. Verdammt nochmal. Die 40er-Schallmauer muss doch zu knacken sein.

Einmal hat es dann geklappt; ganz kurz. Das war in Berlin. Vierzigkommairgendwas war da hinter meinem Namen beim inoffiziellen Rennergebnis vermerkt. Das wurde aber schnell wegen einer Steckenverkürzung geändert. 39,89 km/h steht da nun für das Jahr 2012 in den digitalen Velothon-Analen. Verdammt nochmal! Wieder nichts. Und außerdem nicht in meiner Heimat Hamburg. Vierzig Kilometer pro Stunde im Schnitt -  das blieb mein großes, heimliches Ziel. Bitte, bitte lieber Radsportgott, lass mich nur einmal mit einem 40er-Schnitt über die 100 Km-Strecke heizen. Man wird ja nicht jünger. Und dann sind da auch noch die Kinder. Und...

Gestern dann war es so weit: ein neuer Rekord! Eine Bestmarke für die Cyclassics-Ewigkeit. Leider war's kein 50er-Schnitt; auch nicht der ersehnte 40er. Nein, nein, nein! Die vier vor dem Komma steht für die Zahl meiner Reifenpannen. Vier Mal musste ich anhalten, Rad auf den Kopf stellen, Hinterrad ausbauen, Mantel abschälen, defekten Schlauch raus, neuen rein, Decke raufpulen und dann? Pumpen, pumpen, pumpen. Gut 200 Hübe mit meiner Mini-Rennradpumpe sind nötig, um etwa vier bar Druck in den Reifen zu kriegen. Echt kein Spaß.

Dabei hatte alles so gut angefangen: Start mit meinem Kumpel Matthias an der Alster irgendwo auf Höhe des Fahrradzählers. Gute Laune im Block G, warm, bewölkt - perfektes Rennwetter. Dass der 40er-Schnitt heute nicht fällt ist mir klar.

Handicap eins: Viel zu wenig Training; längere Strecken mit Tempointervallen schon gar nicht. Statt dessen nur ein paar Hausrunden im Biergarten-Tempo. Und dort endeten die Vorbereitunsgfahrten auch jedes Mal. Flüssigkeitshaushalt wieder in Ordnung bringen - immer mit Craft Beer aus der Bunthaus-Brauerei. Rennradfahren soll ja Spaß machen.

Handicap zwo: Schon lange nicht mehr im Rennrad-Gruppenmodus unterwegs gewesen. Denn die vergangenen vier Cyclassics bin ich mit allem möglichen gefahren, nur nie mit dem bevorzugtem Cyclassics-Radtyp: Klappi, Fatbike, Moulton, Vintage-Renner, alles dabei, nur kein modernes Rennrad mit mehr als zehn Gängen. Und dieses Mal solltes es eigentlich ein Bonanzarad werden. Das wurde aber nicht fertig. Darum endlich mal wieder meine alte Trek-Rennfeile rausgeholt.

Erst vor kurzem habe ich sie von der Wand in meiner Garage gepflückt. Sieht doch noch gut aus. Schaltet noch. Bremst noch. Lenkt noch. Schnell noch Klickpedale ran und Luft auf die Reifen. Die sehen auch noch gut aus. Auf den ersten Blick zumindest. Nun gut, die Bontrager-Pellen im 23er Maß sind bestimmt schon zehn Jahre alt, aber drehen wir mal eine Runde. Ergebnis: super! Der Renner fährt sich gut, präzise beim Einlenken, kräftig in der Verzögerung. Vor dem Rennen kann ich ja noch die beiden neuen Conti-Reifen raufhauen. Gedacht, aber nicht gemacht.

Denn dann ist der 19. August schneller da als erwartet: Raceday. Und nun stehe ich hier (mit alten Reifen und noch älterem Rennrad) zwischen mehr als 15000 Rennradfahrern mit frischem und oft sauteurem Carbonmaterial. So ein Kohlefaserbike sieht aus als wenn man damit eigentlich nicht langsamer als einen 40er-Schnitt fahren kann - vielleicht sollte ich doch mal Geld in die Hand nehmen und...

Und dann reißt mich der Startschuß aus meinen Anschaffungsträumen. Los geht's. Und wie: Links fliegen die Mundsburghochhäuser vorbei. Blitzschnell am Statdpark vorbei, schon sind wir in Bramfeld, Rahlstedt und Ahrensburg. Läuft echt gut. Ich schätze Schnitt so um die 40 km/h. Sollte es vielleicht doch noch klappen? Ich fange trotz Rennstreß wieder an zu träumen.

Wo ist Matthias? Abgehängt. "Wir fahren zusammen", so unsere Abmachung. Hat offenbar nicht lange gehalten. Meine Schuld. Ich habe mich an einen Expresszug gehängt. Was wird in der Ergebnisliste stehen wenn das so weiter geht? Etwa eine 40? Eine vier vor dem Komma? Nee, wahrscheinlicher ist ein 37er- oder mit Chance 38er-Schnitt. Wenn alles so weit rollt wie bisher.

Panne Nummer 1

Tut es aber nicht. Meine Träume platzen buchstäblich bei Kilometer 27. Bis hierher habe ich einen Schnitt von 39,1 km/h wird mir meine Tracking-App später verraten. Doch dann ist da plötzlich dieses buttrige Gefühl im Hinterrad. Es federt plötzlich stärker auf Unebenheiten und wirkt labberig. Ein Blick bringt Gewissheit: Die Reifenflanken dehnen sich ungewöhnlich weit nach links und rechts: ein Schleicher ganz klar. Kaum gedacht spüre ich auch schon die ersten Schläge im Felgenbett. Arm nach oben, rechts ran und absteigen.

Ersatzschlauch? Nicht dabei! Das ist nur unnötiges Gewicht. Und meine Altreifen sind so alt geworden, dass sie doch niemals im Rennen schlapp machen... Wozu soll ich da einen Schlauch mitnehmen? Wer Rennrad fährt sollte schon etwas Gottvertrauen mitbringen. Motto: Wird schon halten. Und wenn nicht, ist ja immer noch Matthias da. Der hat immer alles dabei: Schlauch, Pumpe, Wasser, Navi-App, Geld... "Betreutes Radfahren", nennt er unsere Ausflüge gerne. Matthias hat darum viele Freunde im Radsport. Und es werden immer mehr.

Aber wo ist der Kerl jetzt? Jede Sekunde müsste er vorbei kommen. Konzentriert achte ich auf sein grünes Trikot und seinen geraden Lenker. Das zwingt ihn in Rennradpulks in eine aufrechte Sitzposition. So sollte er leicht zu erkennen sein. Theoretisch zumindest. Gleich muss er kommen. Er kommt aber nicht, ist wohl schon vorbei.

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Zwei mal rufe ich in die rasende Masse: "Hat jemand einen Schlauch?" Kopfschütteln und gestöhntes "nee" kommt als Antwort. So ein Mist. Nächster Gedanke: Wo bin ich? Übernächster: Wo ist die U-Bahstation? Nein, nein, nein, verdränge ich die bösen "Ich-gebe-auf-weil-kein-Ersatzschlauch-Gespenster" aus meinem Hirn. Und wer fest glaubt, dem wird geholfen. Nämlich von einem Motorrad. Die hat der Cyclassics-Veranstalter locker im Rennfeld verteilt. Unter anderem haben sie Rennradschläuche dabei. Noch nie habe ich einen kleinen Karton so dankbar aufgerissen wie diese mit einem Bibendium bedruckte Pappe. Was für ein schönes Stück Gummi.

Guten Mutes fingere ich die dünne Schlange in den Mantel, pumpe danach so stramm auf wie es geht, montiere das Hinterrad und weiter geht's. Ein schneller Zug zieht links vorbei. Prima, gleich wieder ranhängen. So darf das jetzt gerne bis ins Ziel gehen. Und vielleicht hole ich ja sogar noch Matthais ein.

 Panne Nummer zwo

Das sind Luftschlösser. Bei Kilomter 48 - das ist irgendwo bei Linau - rächt sich das vernachlässigte Hinterrad erneut an meiner Sorglosigkeit. Pffffffft! Dieses Mal verliert der Schlauch fast schlagartig seine Luft und verrät damit auch gleich die Ursache: Es wird die total abgefahrene Decke sein, die kleinen Kieseln und Steinchen nichts mehr entgegensetzen kann. Die Lauffläche zeigt an den besonders abgenutzten Stellen hässliche Flecken - Mantel-Masern sozusagen.
Meine erste Panne habe ich nicht fotografiert. Das hier ist die zweite.

Gleiches Problem, gleiches Prozedere: Rad raus, Reifen runter, neuen Schlauch her... Neuen Schlauch? Ach, da war doch was. Richtig, keinen Ersatz dabei. Wie gerufen kommt ein Motorrad. Aber das ist von der Polizei. Die haben keine Schläuche. Fragen wir mal wieder die Kameraden: "Habt ihr einen Schlauch?" Und tatsächlich: Einer hält, fummelt einen sorgfältig in einer Socke verpackten Schlauch aus der Satteltasche und sagt: "Ist 28 Millimeter breit und für meinen Crosser. Meinst Du der passt?" "Klar passt er. Den kriege ich da rein", so meine Antwort. Vielleicht hat der Kamerad gehofft, dass ich die Gabe ablehne. Denn höflicherweise frage ich, was er kriegt. Erst Achselzucken, dann Gönnermiene. Ich verspreche ihm meine Hilfe, sollte uns der Fahrradkosmos jemals wieder zusammenführen. Auf jeden Fall rufe ich an dieser Stelle ein aufrichtiges DANKESCHÖN UND IMMER GUTE FAHRT dem unbekannten Helfere hinterher - ein echter Sportsfreund.

Während ich so repariere und mal wieder wie ein Irrer pumpe (200 Hübe...) hält ein Motorrrad. "Brauchste Hilfe". Nee, bin gleich fertig. Gerade will der Typ seine rote Yamaha wieder anwerfen, da rufe ich ihm zu: "Darf ich noch einen Schlauch haben?" Denn dass ich noch mindestens eine weitere Panne haben werde, ist so vorhersehbar wie der Besenwagen als Schlußfahrzeug. Dem zu entkommen ist mein neues Ziel. Kann ich schneller Reifen wechseln als der fährt? Ein spannendes Duell.

Panne Nummer drei

Und eines das immer dramatischer wird. Schon 4,5 Kilometer weiter der nächste Platten. Wieder mit einem gut hörbarem Pfffft! Der Rest ist Routine, und die wird immer schneller. Soll ja sowas wie eine Reifenwechsel-WM für Fahrräder geben. Ich bin jetzt ganz gut im Training. Nach rund fünf Minuten rolle ich schon wieder - doppelt so schnell wie bei der ersten Panne, weil ich einen Schlauch greifbar hatte. Gleich mal nach Ersatz fragen. Doch kein Motorrad und kein Safer Cycling Guide in Sicht. Die haben auch Gummis dabei. Mein inzwischen extrem wichtiges Zwischenziel ist die Verpflegungsstelle. denn hier, so meine Hoffnung, gibt es auch einen technischen Service. Und tasächlich schaffe ich die sieben Kilometer bis zu diesem Punkt pannenfrei.
Der Mann mit der Yamaha hatte einen Ersatzschlauch. Foto vom Sportkameraden

mit Crossschlauch leider nicht gemacht

Neben Gebäck, Getränken, Orangenhälften steht ein Shimano-Serviceauto samt Zelt und zwei freundlichen Mechanikern. Die haben alle vier Hände voll zu tun. An einem Ständer hängt ein Peugeot-Stahlklassiker, Typ Tourmalet. Offenbar will die Schaltung nicht mehr. Das sind Sorgen. Kann der Fahrer nicht mit Singlespeed ins Ziel fahren? Da gibt's viel Schlimmeres, Dauerplatten wie bei mir zum Beispiel. Trotz der Hektik nimmt mich einer der beiden Serviceengel freudig in Empfang. Kurze Problemschilderung, noch kürzerer Blick aufs Hinterrad und ein ganz langes Kopfschütteln. Aber keine Belehrung oder so. Nur ein vielsagender Blick: "Wie kannst du damit nur bei einem Jedermaannrennen antrteten?" Ja, ja, schon verstanden.
Der Shimano-Engel trägt blau und montierte mir einen frischen Michelin-Pneu. Das rettete mir die Cyclassics. DANKE!

Blitzschnell baumelt mein Trek ohne Hinterrad mit der Sattelnase an der Zeltstange. Denn beim Shimano-Trupp gibt es tatsächlich auch Decken - und das sogar gratis. Ich muss zwei Mal nachfragen, was der Schrauber-Held haben will. Tatsächlich nichts. Und es kommt noch besser: "23er oder lieber 25er?", fragt der Gute. Jetzt bin ich endgültig sprachlos. Ich kann mir sogar aussuchen, ob ich den Michelin Lithium 3 mit 23 oder 25 Millimeter Breite möchte. Verrückt! Ich betrachte das mal als kleine Entschädigung für mein Pannenpech. Richtig verdient habe ich das eigentlich nicht. Dann schickt er mich mit den Worten zum Essen: "Wir machen das schon. Fullservice." Mehr als verrückt.

Pannen Nummer 4

Jetzt, mit fabrikfrischem Hinterreifen, kann ja nichts mehr schief gehen. Von wegen. In Ohe, an einem kleinen Anstieg, verliert mein Hinterrad schon wieder Luft. Ich flippe gleich aus. So viel Pech kann man doch gar nicht haben. Was haben ich nur verbrochen? Mit der vierten Panne sind auch die bösen Geister wieder da: Wo bin ich? Wie weit ist es zur S-Bahnstation Reinbek?

Zum Glück ist da noch der ebenfalls erneut gesponsorte Ersatzschlauch. Der kommt noch rein. Und wenn der nicht hält, ist Schluß. Dann höre ich auch ganz auf mein dem Rennradfahren, ehrlich. Oder werde Profi. Die kriegen gleich immer ganze Laufräder in Sekundenschnelle getauscht. Oder setzen sich auf neue Räder wenn was nicht funktioniert. Und das Versager-10000-Euro-Superbike schmeiße ich dann mit viel Wut und Kraft in den Graben.

Als der letzte Schlauch unter der neuen Decke verschwunden ist und ich wieder 200 Mal gepumpt habe merke ich, das es ruhiger geworden ist. Keine großen Gruppen mehr. Nur noch Trios, Duos und viele Einzelfahrer. Die eiern oft in Schlangenlinien durch die Gegend. Was ist denn jetzt los? Neue Erkenntnis: Im letzten Viertel des Cyclassic-Feldes gibt es eine Disziplin die an Kunstradfahren erinnert: aufstehen, Füsse ausklicken, links schütteln, rechts schütteln, Kopf strecken, Radyoga in vielfältigster Form.

Hmmm, noch rund 25 Kilometer bis zum Ziel. Angesichts meiner zahlreichen Zwangspausen bin ich noch frisch, kann kraftvoll und rund treten. Doch der Wind bläst mir frisch ins Gesicht. Windschatten wäre echt nicht schlecht. Doch der ins nicht zu finden. Nirgends. Auf der B5 entdecke ich weit vor mir eine kleine Gruppe. Das wird mein Windschatten. Unterlenkergriff, zwei Gänge runter und Feuer. Zügig komme ich ran und fahre ein paar Minuten als Letzter. Aber nur kurz. 25 km/h oder so ist mir zu langsam. Links raus und als Alleinfahrer durch Billstedt, Hamm zum Hauptbahnhof. Kurz an der Alster lang, letzte Steigung im Valentinskamp und ab ins Ziel. Geschafft. Schnitt: 25 statt 40 km/h. Gelernt: jede Menge. Wiederholungsgefahr: null. Ich kaufe mir jetzt erstmal noch einen neuen Vorderreifen.

I'll be back Cyclassics. Eine Rechnung haben wir noch offen.






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