Dienstag, 27. Juni 2023

Die Wilstermarsch-Land-Unter-Zwei-Kanal-Fähren-Runde

Influencer blasen ihre Fahrradtouren gerne zu epischen Events auf. Tour Divide, Silk Road, Atlas Mountain Race, nee, Mangel an ultralangen, ultraschweren, ultraunglaublichen Selbstversorger-Rekordrennen gibt es wahrlich nicht. Aber es geht auch anders: Ich habe eine anti-epische Ausfahrt mit dem Klapprad gemacht. 30 Kilometer, kaum Wind, keine Steigungen, nur ein bisschen Gravel, aber dafür auf dem Kalkhoff-Klapprad aus den 70er Jahren bei 30 Grad.

Mieträder sind in Dithmarschen eigentlich nicht teuer. Nur acht Euro kostet ein typischer Tiefeinsteiger mit Siebengang-Nabenschaltung etwa in Büsum. Zumindest beim Fahrradverleih scheint die Inflation noch nicht angekommen zu sein. Ich könnte mir also einfach ein billiges Rent-a-bike schnappen, um das Land hintern Nordseedeich zu erkunden. Das kann jeder. Eben!

Darum mache ich es anders. Bei E-Bay-Kleinanzeigen hat ein Typ namens Ulrich ein gelbes Kalkhoff-Klapprad inseriert. Für 40 Euro. Also ab nach Burg. Da wohnt Ulrich. Wir treffen uns am Bahnhof; aus dem Kofferraum des Ford Fiesta holt er den 20-Zoll-Oldtimer. Erst den Lenker mit Vorderrad, dann den Hinterbau mit Tretlager, Gepäckträger und Sattel. Also kein Klapp-, sondern ein Steckrad. Prima, ich mag die Dinger. Alles dreht, was sich drehen soll. Und alles was fest sein soll, wirkt fest. Na ja, so fest es eben an so einem Steckrad anno 1970 eben sein kann. 

"Dreißig?" frage ich ich Ulrich. Ulrich nickt. Es ist immer schön, wenn so ein Handel auf beiden Seiten schnell für Zufriedenheit sorgt. Dann steht mein neuer alter Kalki-Kumpel und ich allein vorm bildschönen Burger Bahnhof. "Auf geht's mein Freund", murmel ich eher zu mir als zu dem kleinen Rad. Klar, Fahrräder haben doch auch irgendwie eine Seele. Und schon rollen wir durchs malerische Burg. Erster Fahreindruck: viel zu wenig Luft auf den Pirelli-Pneus. Zum Glück taucht schon nach einem Kilometer eine Nordoel-Tanke auf. Die hat so einen transportablen Luftprüfer. Der ist für Autoventile. Das wusste offenbar auch Ulrich und hat das Dunlop-Ventil des Vorderreifens mit einem AV-DV-Adapter bestückt. Problemlos bläst der Luftspender drei Bar Druck in die Originalreifen. Kalki stand offenbar im Dunkeln, denn trotz des Uraltgummis sind die Weißwand-Flanken nicht porös.

Weiter geht's, und zwar deutlich schneller als bis zur Tanke. Zweiter Eindruck: Das Hinterrad hat einen heftigen Höhenschlag, die Rückleuchte klappert. Aber sonst rollt Kalki ganz ordentlich Richtung Nord-Ostsee-Kanal (NOK). Der taucht unvermittelt hinter einer dichten Baumreihe auf, die Fähre ist gerade weg. Idyllisch ist es hier. Jetzt schon im Fährhaus einkehren? Viel zu früh. Hab ja gerade erst drei Kilometer geschafft.
Also rauf auf die Fähre. Die ist wie alle auf der künstlichen Wasserstrasse kostenlos. 14 Fähren gibt es zwischen Brunsbüttel und Kiel. Grundlage für die kostenlose Querung des Kanals ist die Verpflichtung des Deutschen Reichs, im Rahmen des Baus des Kaiser-Wilhelm-Kanals (Nord-Ostsee-Kanal) in den Jahren 1887 bis 1895 kostenlose Übergänge für die durch den Kanalbau unterbrochenen Verkehrswege bereitzustellen. Wie war doch gleich? Reisen bildet!

Drüber, auf der Südseite, führt die einsame Landstraße durch weite Felder. Heute liegen sie unter einem blauen Himmel, dekoriert mit fast kitschigen Schäfchenwolken. Es ist warm, ja fast heiß. 30 Grad sind auch für Ende Juni ein hoher Wert. Ich schwitze, obwohl ich nur verhalten trete. Langsam rolle ich durch das Herz der Wilstermarsch. Nach gut fünf Kilometer liegt links ein mit Hecken eingefriedeter Rastplatz. Ein weiterer Höhepunkt, genau formuliert: ein Tiefpunkt. Der Tiefpunkt Deutschlands nämlich. Die korrekte Bezeichnung heißt "Tiefste Landesstelle der Bundesrepublik". Konkret: Dieser Flecken Erde liegt 3,54 Meter unter Normalnull. Eine Art Marterpfahl zeigt, bis wo sich das Meer bei Hochwasser auftürmen würde, gäbe es die Deiche nicht. Bei vergangenen schweren Sturmfluten 1962 und 1976 waren es sogar rund fünf bis fast sechs Meter. Irgendwie irreal sich das vorzustellen: Wasser, Wasser, überall wäre Wasser. Über mir soviel wie ein mehrstöckiges Haus. Verrückt, die Wilstermarsch würde zum Wilstermeer.
Ein älteres Ehepaar auf E-Bikes knirscht durch den Kies. Die kommen wie gerufen. Kalkis Vorderradnabe hat sich zu stramm gezogen und dreht nur noch schwergängig. Der E-Biker hat Knochen und einen alten Fichtel & Sachs-Nabenschlüssel dabei. Sowie ein flotten Spruch auf den Lippen: "Ich fahr halt schon etwas länger Rad." Cooler Typ, gutes Werkzeug. Die linke Achsmutter dreht sich trotzdem nur widerspenstig und ich erkenne das Problem. Das Gewinde ist kaputt. Die FG 9,5-Mutter kann die Achse nicht mehr stramm fixieren. Egal, Kontermutter und Achskonus lassen sich lösen. Nun hat die Nabe soviel axiales Spiel, dass das Vorderrad ziemlich locker zwischen den Gabelausfallenden tanzt. Dafür läuft es jetzt sehr leichtgängig. Buchstäblich gelöst geht es weiter durch die Hitze.

In Vaalermoor biege ich nach links von der Hauptstraße in einen Betonplattenweg ab. Schilder und Wegweiser gibt's hier nicht. Menschen auch nicht. Es ist einsam. Nur die Hochbrücke Hochdonn, die hin und wieder über den Baumwipfeln zu sehen ist, erinnert daran, dass die Zivilisation ganz nah ist. Und ein paar Kilometer dahinter tost die BAB 23 und bringt eilige Urlauber nach Büsum und Sylt. Die Plattenpiste ist holprig, oft von Pflanzen durchsetzt und vom Frost zersprengt. Aber Kalki klappert fröhlich quitschend voran. Auf einem Feld hebt ein alter Traktor große Strohräder auf einen Anhänger. 

Dann geht es zweimal links, einmal rechts rum und ich bin wieder am NOK. Auf dem schiebt sich gerade die Alstern Richtung Kiel. Ich trete etwas fester und fahre eine zeitlang parallel mit dem 90 Meter langen Schiff den Kanalweg entlang: Kümo gegen Klappi, das gibt's auch nur hier. Zügig ist so Hochdonn erreicht. Rauf auf die Fähre und rüber ans andere Ufer. Die zweite Fähre am heutigen Tag. Auf dem NOK fährt jetzt ein riesiger Pott vorbei: Die Dignity ist ein Tanker, ebenfalls mit Ziel Ostsee. 

Fuhr ich bislang Richtung Kiel, strample ich jetzt gen Brunsbüttel. Da ich ungern gleiche Strecke fahre, biege ich auf einen verwachsenen Singletrail ab. Nicht unbedingt ideal mit Kalki. Zum Glück mündet der Pfad schnell in eine Schotterstrasse, und diese führt ziemlich direkt nach Burg. Dort hat das THW seinen Fuhrpark fürs Familienfest aufgebaut und es gibt Bratwurst für zwei Euro - ein schöner ASusklang der Wilstermarsch-Land-Unter-Zwei-Kanal-Fähren-Runde.



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